Das braucht man:
Noch besser:
Ursprung und Pioniere in Deutschland
Das Prinzip des flipped classroom ist - einmal mehr - eine Unterrichtsmethode, die aus dem amerikanischen Raum zu uns kommt. Im Deutschen nennt man es des öfteren auch "umgedrehter Unterricht". In einem Wiki wird anschaulich mit Videos erklärt, wie dieses Prinzip umgesetzt werden kann. Gerade Professor Christian Spannagel, Professor Jürgen Handke und Professor Jörn Loviscach haben sich an Hochschulen ausgiebig mit diesem Thema befasst. Bisher habe ich unter Lehrern noch nicht viele gefunden, die sich trauen, flipped classroom in der Schule umzusetzen.
Auf dem Weg zum Flipper
Ich selbst bin nicht gleich beim flipped classroom gelandet. Meine Intention war es, Videos zu erstellen, damit Schüler mathematische Sachverhalte auf eine zusätzliche und andere Weise lernen können. Diese Videos habe ich anfangs in den Unterricht gestellt. 31 Schüler saßen vor ihrem PC und haben sich in ihrem Tempo das Thema der Stunde angesehen. Dieses Projekt ging gänzlich schief. Die Ergebnisse wurden schlechter und die Schüler hatten trotz meines Mehraufwandes keine wirkliche Leistungssteigerung. So kam ich auf die Idee, die Videos zur Nachbereitung für den Nachmittag zur Verfügung zu stellen. Zu Beginn der Stunde habe ich mich also wieder vor die Klasse gestellt und den Sachverhalt im Schüler-Lehrer-Gespräch entwickelt. Doch mit den Videos war es nun ein Leichtes, die (für mich) lästigen Abschreibephasen auf den Nachmittag zu verlegen. Doch auch bei diesem Verfahren merkte ich, dass der Effekt der Selbstständigkeit besser wurde, aber noch nicht vollständig Selbstständiges Lernen der Schüler zu sehen war. Das lag meiner Meinung nach daran, dass das Gespräch zu Beginn immer wieder durch Rückfragen Einzelner unterbrochen wurde. Diese Rückfragen waren allerdings für viele oft nicht zu verstehen bzw. völlig überflüssig. Wie sagte ein Schüler einmal so nett: "Sein Flow des Verstehens wird damit gestört." Also flippte ich nach über einem Jahr vollständig. Die Schüler bekamen zur Hausaufgabe ein Video auf, mit dem sie sich auf den Unterricht vorbereiten sollten, in der Unterrichtsstunde selbst wurde/wird dann ausschließlich geübt und das Thema vertiefend bearbeitet bzw. diskutiert. So kann man also drei Formen des Flipped Classroom unterscheiden:
Durch meinen Weg über diese drei Phasen kann ich heute aber flexibel die Methode einsetzen, welche aktuell am Sinnvollsten erscheint. Hauptsächlich ist mein Unterricht nur geflippt. Allerdings nicht immer mit einem reinen Erklärvideo. Man darf nicht den Fehler machen, den vom traditionellen Unterricht bekannten Lehrervortrag 1:1 in ein Video zu packen. Im Unterricht selbst werden die Schüler so viel arbeiten, dass ein gewisser Transfer auch dabei erwartet werden kann. Gleichzeitig nimmt man mit reinen Erklärungen die Möglichkeit des entdeckenden Lernens. Deshalb sollte man manchmal auch offene Fragestellungen in einem Video aufgreifen und z.B. mit erklärtem benötigtem Grundwissen versehen, wie z.B. hier.
Half-Flipped macht z.B. Sinn, wenn man eine außerplanmäßige Stunde in der Klasse gibt bzw. die erste Stunde nach den Ferien halten muss. Beidesmal kann man schwer organisieren, dass ein Video als Hausaufgabe angesehen werden konnte.
Ein InClass-Flip macht dann Sinn, wenn man Schülern nie gezeigt hat, wie eine Aufgabe zu lösen ist und sie zunächst ausprobieren sollen. Diejenigen, die partout nicht auf das Ergebnis kommen, können sich dann noch in der Stunde eine beispielhaft vorgerechnete Aufgabe ansehen.
Ein Video muss nicht immer ein einführender Input sein, er kann auch eine Aufgabe mustergültig vorrechnen, an der man sich 45 Minuten im Unterricht ausprobiert hat.
Zusammenfassend ist ein Erklärvideo eben nicht immer nur ein Lehrervortrag. Auch hier gilt es abzuwägen: Welche Phase des Unterrichts ist am lehrerzentriertesten und sollte nach Möglichkeit individuell und im eigenen Tempo angesehen werden.
Zu jedem Video gehört aber auch ein Assessment: ein Quiz, ein Fragebogen, die Gestaltung eines Hefteintrags, Portfolio,... So kann man die Schüler dazu bringen, aktiv ein Video anzusehen.
Die Unterrichtsphase mit den Hausaufgaben
Auch aufgrund der Hattie-Studie wird mittlerweile der Sinn von Hausaufgaben diskutiert. Mit dem flipped classroom Prinzip können diese nun "abgeschafft" werden. Zumindest zum Teil.
Die Aufgaben im Unterricht teile ich in drei Bearbeitungsgruppen ein. Gruppe 3 löst das Minimum an Aufgaben. Diese sollen allerdings in maximal 30 Minuten bearbeitet werden können (Richtlinie für mich) Die Gruppen 2 und 1 bekommen zusätzliche oder schwierigere Aufgaben. Den Schülern wird erklärt, dass die Gruppe 3 reichen könnte, um eine ausreichende Note in Mathematik zu bekommen. Dementsprechend sollte man Gruppe 1 lösen können, um eine 1 erzielen zu können. Die Schüler schätzen sich zu Beginn der Stunde selbst ein und bearbeiten dementsprechend ihre Aufgabengruppe. Schüler aus Aufgabengruppe drei müssen fertig werden. Wenn ich in der Unterrichtsstunde mitbekomme, dass fast alle Schüler die Aufgaben noch nicht beendet haben, werden Aufgabenteile auf die nächste Stunde verlegt.
Die meisten Schüler sind also frühzeitig mit ihren Aufgaben fertig und können nun anderen Schülern helfen oder Aufgaben aus anderen Gruppen bearbeiten. Es steht ihnen auch frei, von Anfang an mit anderen Schülern zusammen zu arbeiten.
In den letzten Wochen habe ich außerdem weitere Methoden ausprobiert. Vielversprechend läuft z.B. das "Aktive Plenum" an. Es ist faszinierend zu beobachten, wenn Schüler selbst und wirklich ohne Hilfe des Lehrers
im Klassenverband eine Aufgabe lösen. Sie erreichen die Lösung meist deutlich schneller, als durch ein L-S-G. Des Weiteren arbeiten viel mehr Schüler an der Lösung mit, als sie das mit mir als
Anleiter gemacht hätten. Alle sind dennoch nicht dabei.
Auch das Prinzip Lernen durch Lehren hat Einzug in meinen Unterricht erhalten. 5-7 Schüler bereiten zu Beginn ein Thema vor. Währenddessen übt der Rest eine Aufgabe zum letzten Thema.
Anschließend stellen die Erstgenannten einzeln einer Gruppe die neu gewonnenen Erkenntnisse mit und leiten dann als Teamchef die folgenden dazu passenden Aufgaben. Es ist erstaunlich, wie viel
Schüler selbstständig erarbeiten können. Ich erkenne so langsam, was Jen-Pol Martin meint: "Wir unterfordern unsere Schüler gnadenlos". In gewisser Hinsicht habe ich tatsächlich das Potenzial
meiner Schüler nicht ausreichend ausgeschöpft, wenn ich die Resultate von LdL sehe. Allerdings glaube ich, dass dies erst möglich ist, wenn die Schüler bereits trainiert sind, selbstständig zu
arbeiten.
Effektive Nutzung von Unterrichtszeit dank neuer Medien
Der Nachmittag ist zwar medientechnisch die absolute Neuerung, aber den positiven Effekt habe ich im Unterricht. Ich kann mich fast 45 Minuten lang um die Lösung von Aufgaben, um vereinzeltes Feedback, um lernschwache Schüler und um den Lernerfolg vieler Schüler kümmern. Durch die viel mehr stattfindenden Dialoge habe ich zu jeder Zeit den Leistungsstand der Klasse im Blick und kann entsprechend reagieren. Gleichzeitig profitieren die schwächeren Schüler von den Klassenkameraden. Hätten sie bei einer Hausaufgabe frühzeitig aufgegeben, haben sie nun vielfältige Möglichkeiten zum richtigen Ergebnis zu kommen. Ich als Lehrer liebe diese Art zu unterrichten. Ich habe das Gefühl, viel näher an den Schülern dran zu sein. Jetzt verstehe ich auch, warum bei allen Bildungsforschern das Thema Feedback an oberster Stelle steht.
Jede Methode hat Fehler
Natürlich gibt es Schwachstellen in diesem System. Wie überprüfe ich, dass die Schüler auch wirklich das Video angesehen haben? Eine gängige Praxis ist das Abfotografieren der Tafelbilder (im Übrigen auch von normalen Hausaufgaben in anderen Fächern), um sie dann bei WhatsApp an alle Klassenkameraden in dem extra dafür eingerichteten Chat zu versenden. Weil ich es regelmäßig überprüfe, sehe ich in fast allen Fällen tadellose Hefte, aber die Anzahl der Klicks auf meinen Videos bewegt sich unter der Anzahl der Schüler. Manchmal frage ich mich, was ein Schüler nachmittags noch gewillt ist zu machen, wenn bereits Videos von wenigen Minuten eine Überforderung darstellen. Gleichzeitig ist aber auch das bloße Abschreiben ein Wiederholungseffekt. Die meisten Schüler schauen allerdings meine Videos an, manche sogar dank Datenflat auf dem Weg zur Schule, um sich noch einmal zusätzlich auf den Unterricht vorzubereiten.
Ein weiterer Nachteil ist das Arbeiten am PC. Schüler haben jetzt nachmittags einen Grund mehr vor ihren Eltern, an den Computer zu gehen. Doch in meinen Augen bleibt es dann trotzdem die Aufgabe der Eltern, die Zeit im Internet zu regeln. Meine Methode setze ich auch nur um, wenn jeder Schüler der Klasse einen PC-Zugang und einen Internetanschluss besitzt. Bisher war das aber in allen Klassen vorhanden.
Veränderte Wahrnehmung von Unterricht
Durch die Videos stellt ein Lehrer seinen Unterricht automatisch in die Öffentlichkeit. Die Verortung im Internet, die Möglichkeit, Inhalte mit anderen Schülern zu
teilen und natürlich auch teilweise die Begeisterung dafür trägt diese Unterrichtsmethode. Für mich persönlich ist das allerdings kein Nachteil. So bekomme ich mehr Feedback über meinen
Unterricht als zuvor. Allgemein finde ich sogar, dass neben den vielen organisatorischen und pädagogischen Diskussionen wieder mehr der didaktische Diskurs geführt werden sollte: Was klappt gut,
was funktioniert nicht? Lehrer scheinen mir immer mehr pädagogische Einzelkämpfer zu sein, dabei könnten wir methodisch so viel voneinander lernen...
Abschließend möchte ich sagen, dass das Prinzip mir unzählige Vorteile gebracht hat. Vor allem aber Spaß am Unterrichten. Ich sehe, wie Schüler lernen (wollen), sich
verbessern und wie ich mit wenig Aufwand im Unterricht auch bei den Schülern Anerkennung für ein Fach wie Mathematik entfachen kann. Was will man als Lehrer mehr...