In den letzten Jahren ist es immer mehr zum Trend geworden, das "System Schule" (was auch immer das ist und wer auch immer dafür verantwortlich ist) als kaputt zu bezeichnen. Zur Untermauerung des Arguments werden gerne aus vielen Bereichen Forderungen an Schulen getragen, wie man die Kids am besten auf die Welt von morgen vorbereiten sollte.
Irgendwie kann ich das auch nachvollziehen, in einigen Bereichen braucht Schule ein Upgrade oder aber die Strukturen sind derart veraltet, dass Neuerungen oft nur on top kommen können. Ich sehe auch, dass viele "im System" mehr und mehr die Lust verlieren - das ist sehr schade und braucht eine Veränderung.
Ich verfolge den Diskurs schon lange und möchte dann immer der Lösung auf dieses Problem auf den Grund gehen: allein ich finde sie immer seltener. Überspitzt formuliert: Fasst man alle Forderungen an Schulen zusammen, ist eine neue Schule wahrscheinlich gar nicht möglich? Wir bewegen uns mMn in den meisten Diskussionen bereits in der Utopie. Das ist ein verheerendes Signal: Untergangsszenarien und schlechte Beispiele für das Lernen finden wir mittlerweile zuhauf, echten Innovationsgeist immer weniger. Damit verhindern wir in meinen Augen eine pragmatische Veränderung, weil wir auf die Revolution warten - die in meinen Augen nicht kommt. Dazu sind viele Forderungen zu sehr von der Realität entfernt. Heute sorgen schon kleine Veränderungen in der Gesellschaft für einen Aufschrei (Beispiel Wegfall Bewertung bei Bundesjugendspielen), wie sollen radikale Veränderungen getragen werden? Aber ein neues Lernen ist jetzt möglich und dazu müssen wir nicht die Schulhäuser und "das System" einreißen.
Gestaltungsfreiheit fordern oder nutzen?
Häufig wird am System Schule bemängelt, dass Lehrpläne veraltet sind und keine Freiheiten beinhalten. Ich habe das in den letzten Jahren anders wahrgenommen. Ich werde dem Lehrplan gerecht und habe viele Freiheiten bei der Unterrichtsgestaltung und auch z.B. in der Notengebung. Vielleicht ist das "System Schule" zu sehr mit individuellen oder gedanklichen Traditionen (das war doch schon immer so) verheiratet, aber Freiheiten gibt es eigentlich auch genug.
Schulhaus neu bauen oder in alten Räumen individuelles Lernen ermöglichen?
Im Gespräch mit einem Fernsehmoderator wurde mir das einmal schön gespiegelt: "In der Schule in Wutöschingen findet toller Unterricht statt, das Gebäude lädt regelrecht zum Lernen ein. Ihr in Pfuhl habt ein altes Schulhaus, macht aber ähnlichen Unterricht." Tatsächlich ist die Alemannenschule state of the art, ganz tolle Arbeit wird da geleistet - da kommen wir auch nicht hin. Aber brauchen wir dringend das neue Gebäude? Individuelles, kooperatives oder kreatives Lernen geht auch in bestehenden Schulhäusern. Es wäre schöner, wir würden alle in Wutöschingen unterrichten, aber unser Alternativgebäude sollte nicht verhindern, guten Unterricht zu ermöglichen. Die wiederum kann man auch neu denken, Raum und Lernen kann auch ohne Umbau geöffnet werden.
Noten abschaffen oder Feedbackkultur verbessern?
Beinahe die populärste Forderung: Noten abschaffen, denn man konnte damit wenig Objektivität und kaum Auswirkungen auf das Lernen nachweisen. Ich sehe das ähnlich. Aber wie realistisch ist eine Schule ohne Noten, wenn sich halb Deutschland über das Abschaffen von Bewertungen bei den Bundesjugendspielen aufregt? Dabei wären Noten mMn deutlich aussagekräftiger, wenn man das Thema Feedback viel höher hängt. Ständige Begleitung von Prozessen, Feedback zu Zwischenergebnissen, ein gemeinsamer Plan fürs Bessermachen, ... die Note nach solchen Prozessen ist dann das Ergebnis eines Lernwegs. Gerade das Verwenden von Tools wie bettermarks, fiete.ai, Diagnose-Tools, ANTON... sie alle könnten Lehrkräfte entlasten, damit mit mehr Feedback auch objektivere Eindrücke beim Lernen entstehen können.
Mehr von allem oder mit weniger mehr?
Bei Veränderungsprozessen wird auch auf die stärker werdende Belastung bei Lehrkräften verwiesen. Da ist auf jeden Fall etwas dran, vor allem, wenn immer weniger diesen Job machen wollen. Gleichzeitig haben wir in meinen Augen aber auch drei weitere Probleme, die behebbar sind: 1. Neuerungen planen wir on top (Hörempfehlung!), durch unsere Tradition an Schulen will man aber gleichzeitig Vieles beim Alten belassen. Das betrifft auch die Arbeit der Lehrkräfte. 2. In der Zusammenarbeit mit Kollegen könnte ich mir viel Zeit sparen - wird aber zu selten praktiziert. 3. Einige Lehrkräfte machen immer weniger, so dass andere immer mehr machen müssen.
Schüler das Lernen selbst gestalten lassen oder kompetenzorientiert fordern und fördern?
Ein gefährliches Thema. Mich nervt aber an der aktuellen Diskussion, dass man anscheinend den Kids nur genügend Freiheiten geben muss, damit Lernen gelingt. Das wiederum überfordert mMn das System Schule. Es gibt auch Schüler:innen, die mit Freiheiten (noch) nicht umgehen können oder diese für Dinge nutzen, die nichts mit Lernen zu tun haben. Das stört nicht nur deren Lernen. Wer den aktuellen Lehreralltag erlebt, ist immer wieder auch mit Disziplinlosigkeiten und einem Entfliehen vom Unterricht konfrontiert - nicht immer ist daran der Unterricht oder die Lehrkraft schuld. Wenn freiheitliches Lernen gelingen soll, muss auch Partizipation und einachtsames Wir hergestellt werden. Nicht durch Druck, Noten oder Disziplin, sondern durch Angebote und einer positiven Energie. Manchmal bleibt dann aber auch erst einmal die Pflicht, bis alle dabei sind und Lernangebote wahrnehmen können. Ein freiheitliches Lernen kann heute schon gestaltet werden, aber erst wenn Beteiligung sichergestellt ist.
Digitale Bildung oder Lernen in den Mittelpunkt
Die Digitale Transformation (oder Revolution?) überfordert unsere Diskussion und führt zu komischen Berichterstattungen aus dem Ausland. Die Überbetonung des Digitalen tut dem System Schule nicht gut. Unterricht ist so viel mehr als nur digital. Auch die Schulentwicklung hat mehr Themen als nur Tabletklassen.
Nimmt man das Lernen in den Mittelpunkt, können wir auch die heutige Generation gut auf die Welt von morgen vorbereiten. Dabei ist dann wieder "das Digitale" eine wunderbare Unterstützung. Aber eine Digitale Transformation braucht erst einmal eine Transformation des Lernens - und die ist schon seit Jahren möglich und hat nichts mit dem Dauerlehrervortrag zu tun. Mich nervt an der Diskussion erst die völlige Fokussierung auf das Digitale, um dann wieder zu fordern in den Wald zu gehen oder Smartphones zu verbannen. Das gesunde Mittelmaß wäre der Weg und der ist jetzt möglich. Wir brauchen nicht den "heiligen Grahl der Digitalen Transformation" suchen, wenn das Lernen im Klassenzimmer noch im Frontalunterricht festhängt.
neue Fächer schaffen oder Fachunterricht zukunftsfähig machen?
Eine ewige Diskussion: je nachdem welche Unwucht in der Gesellschaft aktuell herrscht, brauchen wir neue Fächer: Glück, Resilienz, Informatik, Demokratie, Militär in die Schule, ... Manchmal würde ich das befürworten, aber auch hier gibt unsere Stundentafel nicht mehr her. Aber alle genannten "Fächer" und viele mehr können in den bestehenden Kanon integriert werden. In meinen Fächern kann ich alle oben genannten Themen unterbringen. Einerseits in der Methodik, andererseits lässt sich in so vielen Fächern ein Alltagsbezug zu aktuellen Themen auch inhaltlich darstellen. Dazu bräuchten wir eine kleine Verschlankung des Lehrplans, einen Fokus auf die Zukunftskompetenzen in jedem Fach, mehr fächerübergreifende Projekte oder sogar Projekttage zu Überthemen. Dann brauchen wir aber nicht auf neue Fächer warten, sondern können jetzt loslegen. Immer auf etwas zu warten verschleppt in meinen Augen die Veränderung.
alternative Prüfungsformate oder... oder ... oder...
Ok. Die sind alternativlos. Diese Forderung ist in meinen Augen notwendig. Damit einhergehend auch andere Abschlussprüfungen. Hier wäre es nur fahrlässig, erst auf die veränderten Formate im Abitur zu warten, bevor man Leistungsnachweise davor in andere Formate überführt. Die Schulordnungen geben diesen Spielraum oft her, in der Notengebung gibt es bei reflektiertem Vorgehen erstaunlich viele Freiheiten. Daher: jetzt Prüfungsformate ändern.
Mir ist bewusst, dass Lehrer entlastet, Bürokratie abgebaut, Infrastrukturen verbessert, Ängste ernst genommen, Lehrkräften und Schüler:innen mehr zugehört, ... werden muss/müssen. Aber das hält uns nicht davon ab, jeden Tag ein wenig mehr innovatives Lernen zu initiieren. Wenn Du nur lange allen sagst, dass das System Schule grundsätzlich geändert werden muss, glaubst Du irgendwann dran, dass es kaputt ist. Wenn dann aber die Veränderung nicht kommt, bist Du mit dem Status Quo unzufrieden. Das ist für mich ein circle of shit: dadurch wird Schule nicht besser, sondern sie verharrt in der Hoffnung auf die Zukunft: "Schule muss erst..." Dabei ist so viel Veränderung möglich und es wäre schade, den Kids von heute diese Chance zu lernen zu verwehren.
Mir gefällt diese Untergangsstimmung vor allem deshalb nicht, weil sie Innovation aufschiebt. Als gäbe es "ein System", das sich erst verändern muss. Das System sind wir: Lehrkräfte, Eltern, Schüler, Gesellschaft, Politik ... Die breite Mehrheit entscheidet, wie es weitergeht. Die Politik orientiert sich an der Mehrheit und immer nur lauter das SAstem kaputt reden ohne Konsnens in der Veränderung, wird das Problem verschieben, aber nicht ändern.
Mit mehr positivem Blickwinkel, einer wertschätzenden Haltung zu neuen Möglichkeiten des Lernens und einem reflektierten Machen, werden wir glaube ich mehr bewegen. Ich gehe wieder zurück zum #wowdw (Instagram, Bluesky, Twitter, Threads) und versuche weiterhin, Positives aus dem Lehreralltag in die Welt zu tragen.