(Meine) 10 Chancen. Die bleiben!!!

Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Das kann man als Vorteil sehen, war aber in den letzten Monaten ganz schön anstrengend. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung lief Vieles falsch. Richtig machen konnte man es fast nicht mehr, denn dann gab es wieder jemanden, der das auch schlecht fand. 

Die coronabedingten Schulschließungen waren tatsächlich eine enorme Belastung, die Auswirkungen auf unsere Schüler:innen und auch uns Lehrkräfte werden wir wahrscheinlich nach und nach aufarbeiten müssen. Aber für mich haben sich in den letzten Monaten auch sehr viele Chancen entwickelt. Diese wollte ich für einen Vortrag zusammen fassen. Zuerst wollte ich drei, dann fünf aufzählen, aber am Ende musste ich mich sogar auf 10 reduzieren. Wahrscheinlich sehe ich die Welt manchmal auch durch einen rosa Filter, aber einige Dinge haben sich auch (wirklich?) zum Guten gewendet. Die sollen bleiben, die dürfen nicht wieder weg wenn wir so langsam wieder zum "normalen Unterricht" zurück gehen: 

 

1 asynchron + synchron

Wir haben gelernt, dass manche Dinge zu Hause sehr gut funktionieren, dass die Schüler:innen in ihrem eigenen Tempo auch sehr gut arbeiten konnten (hinführende Aufgabe, Kreativaufgaben, Recherche, Ergebnissicherung,...). Bei manchen Elementen haben wir uns aber stark gewünscht, wieder in ein Klassenzimmer zusammen zu kommen (Diskussionen, pair-share, Beziehungsarbeit, Feedback,...) - auch wenn es manchmal selbst digital gut geklappt hat. Für die Zukunft sollten wir Unterricht neu rhythmisieren mit dem, was wir während den Schulschließungen gelernt haben: was kann man in seinem eigenen Tempo (besser) und wo braucht es das Zusammenkommen im Klassenzimmer. Wie kann ich die Präsenz aufwerten, die alle so schmerzlich vermisst haben? Wir haben jetzt den einzelnen Schüler entdeckt und dennoch hat der Dialog viel zu oft gefehlt. Diese Erkenntnis sollten wir als Chance für die zukünftige Unterrichtsgestaltung nutzen. 

2. Lernerlebnisse schaffen - Wirksamkeit erzeugen

Mit dem Distanzunterricht mussten wir auch unsere Aufgabenkultur überdenken. Je mehr wir unseren Kids zugetraut haben, desto mehr konnten sie auch über sich hinaus wachsen. Bei einer Projektarbeit im Fach Mathematik habe ich nach dem Konzept "Lernen durch Lehren" meine Schüler:innen in Gruppenarbeit Videos erstellen lassen. Die meisten Ergebnisse waren toll und auch die für den Mathematikunterricht wichtigen Kompetenzen konnten gestärkt werden. Es ergaben sich damit Möglichkeiten, das Lernen auch zu messen. 
Meine Chance: Die Schüler:innen mehr zum Mitgestalter werden lassen. Das muss nicht immer ein großes Projekt sein, sondern kann auch mit einer kleinen Kreativaufgabe zu Beginn eines Lernszenarios starten. Die Kids können so viel, aber man muss es ihnen auch zutrauen. Vielleicht klappt das nicht gleich beim ersten Mal gut, aber dann bauen wir halt eine zweite Schleife ein und probieren es noch einmal. Viele Beispiele und Ideen in dieser Hinsicht findet man auch auf pruefungskultur.de

3. Beziehungsebene

"Ich kenn jetzt viel mehr von meinen Schülern, die von mir natürlich auch. Wir durften überall so einen Blick hinter die Kulissen wagen und es war gar nicht so gefährlich." Ich glaube so wie meiner Kollegin Gabriele ging es vielen Lehrer:innen. Wir haben teilweise mehr über einzelne Schüler:innen erfahren, als wir das vorher hinbekommen haben. Mein Erfahrung: Wenn Du zu Deiner Klasse eine gute Beziehung aufgebaut hattest, dann hat es auch im Distanzunterricht besser geklappt. Anders herum, Lehrkräfte, die im Distanzunterricht eine Klasse neu bekamen, taten sich oft schwerer.

Das sich kümmern, füreinander da sein, das braucht aber auch Zeit. Daher sollten wir Unterricht so planen, dass viel Zeit für den Dialog ist, dass wir immerzu miteinander im Austausch sind. Das überfordert aber vielleicht auch, denn alle individuell abzuholen könnte bei über 100 Schüler:innen pro Woche auch schwer werden. Daher braucht es die Beziehungsebene im Kollektiv: im Kollegium, mit den Eltern, Sozialarbeiter:in, Schulpsycholog:in,... Schule soll auch das Soziale Miteinander stärken durch Menschen, die sich kümmern. Woher die Zeit nehmen? Ich werde die Chance nutzen und mich mehr um das Begleiten kümmern, und werde Content und Unterrichtsmaterial auch von anderen Kollegen verwenden.  

4. Lob der Selbstständigkeit/Selbstdisziplin

Ich habe das Gefühl, dass meine Kids viel selbstständiger geworden sind, sowohl meine eigenen Kinder als auch meine Schüler:innen. Ist es nicht genau das, was wir unseren Schüler:innen beibringen sollen? Lernen sich selbst zu helfen?

Dazu benötigen die Kids aber auch Selbstdisziplin, die ich als Lehrkraft einfordern muss. Ein gefährliches Terrain, denn Pädagogik und Disziplin sind schon zu oft vermurkst worden. Ich bin ein großer Verfechter des freiheitlichen Ansatzes: gib den Schüler:innen so viel Freiheit wie möglich, lass sie kreativ sein, gib ihnen Flügel zum Fliegen. Wir haben aber auch gelernt, dass die Ablenkungsmöglichkeiten im Distanzunterricht zahlreich sind. Gegen Netflix, TikTok oder Fortnite kann die Diskussion im Religionsunterricht oder das Schreibgespräch in Deutsch nicht mithalten. Daher ist es auch wichtig, die Kids ins Boot zu holen. Chancengerechtigkeit heißt, keinen verloren gehen zu lassen. Bevor jemand gut sein kann, muss er auch dabei sein. Deswegen fördere ich nicht nur, ich fordere auch ein. Dann aber feiere ich alles, was klappt und versuche jeden beim Gut-sein zu erwischen. 

Das sollte bleiben: Die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung so oft wie möglich zu fördern, aber auch einzufordern. 

5. Lernräume öffnen

Das Lernen der 8d ist gar nicht an das Klassenzimmer gekoppelt, wir können überall lernen. Mit dem Verlagern der Arbeitsaufträge und den Unterrichtsinhalten konnte Unterricht jetzt überall stattfinden. Gleichzeitig sind in den virtuellen Räumen auch Schüler:innen über sich hinausgewachsen, haben sich stärker eingebracht als zuvor. Lernen ist das geworden, was das Internet schon immer versprochen hatte: orts-, raum- und zeitunabhängig. 

Tatsächlich muss man sich fragen, wie dieses (individuelle aber auch kooperative) Lernen zurück im Klassenzimmer mit 30 Schülern funktionieren soll. Vielleicht brauchen wir mehr Räume und Rückzugsgebiete für jeden (wie z.B. in Wutöschingen) Das kann man aber auch jetzt schon annähern, wenn man sich über das Fachraum-/Lehrerraumprinzip Gedanken macht. Warum nicht die Draußenschule mitdenken? Warum nicht durch Virtuelle Realitäten, die Welt ins Klassenzimmer holen (Beispiel Synagogenbesichtigung der Digitalen Relitanten), oder mit Partnerschulen sich online verabreden, Experten per ViKo ins Klassenzimmer holen, mit erweiterten Realitäten (AR) mehr sichtbar machen,... Der Lebensraum, der virtuelle Raum und der Unterrichtsraum haben sich angenähert und das darf auch so bleiben. 

6. Fortbildungsboom

In Bayern wurde im September die Stabsstelle aus dem Boden gestampft: seither (Stand Mai 2021) gab es 900 eSessions mit 150 000 Anmeldungen. Eine derartige Reichweite wäre vor Corona kaum denkbar gewesen. Ideen und Impulse konnten so in viele Lehrerzimmer getragen werden. Mit Jogginghose zur Fortbildung, mit dem Kind auf dem Schoß, beim Kochen oder auf der Couch: Lehrer:innen sind sehr motiviert, sich weiterzubilden, wollen Unterricht neu denken, aber am Ende haben wir halt zu wenig Zeit, um Fortbildungen in Präsenz mit langen Fahrten anzugehen. Gleichzeitig gibt es aber so viele weitere tolle Fortbildungsangebote: Selbstlernkurse beim E-Learning-Kompetenzzentrum, das Infoportal von mebis, Distanzunterricht vom ISB, Podcasts aus der Wissenschaft über die Schulberatung, Informationsseiten vom KM, uvm.. Es ist genug für alle da, aber noch nicht alle haben diese Möglichkeiten wahrgenommen. Langfristig sollte man den Austausch vor Ort in den Mittelpunkt der Weiterentwicklung setzen. Den Fortbildungsboom mitnehmen und sich dann vor Ort über Gelingensbedingungen austauschen oder gemeinsam ausprobieren. Mit einem Mikro-Schilf-Konzept den Dialog über Unterricht suchen: jeder kann was oder hat im Distanzunterricht als Lehrer etwas dazu gelernt. Jetzt sollte man dem auch Raum geben darüber zu sprechen, damit es nachhaltig wird. 

7. Zusammenarbeit der Lehrkräfte

"Oh Gott, wie sollen wir das alles schaffen?" berechtigte Frage in diesen herausfordernden Zeiten. Viele von uns sind am Limit, lange darf diese Form nicht mehr weitergehen. Langfristig sollte man sich daher Gedanken machen, wie man sich Zeit sparen kann. Für mich heißt die Antwort seit Jahren: gemeinsam anpacken, Strukturen für die Zusammenarbeit anlegen. Nicht jeder muss den Unterricht neu erfinden, man muss halt nur zufrieden sein mit dem, was ein anderer Kolleg fabriziert hat. Auch das ist in den letzten Monaten passiert: man hat gemeinsam neue Wege getestet, hat Materialien ausgetauscht, Unterricht abwechselnd geplant,... Diese Chance sollten wir strukturell angehen und Kooperationen langfristig planen. Wir sollten als Lehrer nicht diejenigen sein, die sich im "Content-erstellen-Hamsterrad" verlieren, sondern wir sollten ganz viel Zeit für die Begleitung unserer Schüler:innen haben. Gleichzeitig sind kooperative Lehrkräfte oder ist eine kooperative Schule ein gutes Vorbild für unsere Kids. Über meine Tipps für eine Lehrerkooperation hatte ich im letzten Monat gebloggt. 

8. Wertschätzung des Digitalen

Das Digitale ist gar nicht so schlimm wie immer befürchtet, es stecken viele Chancen darin. Die Digitalisierung an Schulen hat einen enormen Boost erfahren durch die Schulschließungen. Wir haben auch gelernt, dass unsere Schüler:innen manchmal gar nicht so digitalkompetent sind, wie wir uns das vorgestellt haben: richtig recherchieren, Plattformen intuitiv nutzen, sich bei der Zusammenarbeit an Gesprächsregeln halten bzw. auch virtuell für ein Gelingen sorgen, Lernprodukte digital erstellen, das eigen Handeln oder das Netz an sich zu reflektieren,... Diese Kompetenzen zur Medienbildung haben Einzug in den Unterricht erhalten und dürfen nicht mehr weg. Digitale Bildung bedeutet nicht Unterricht digital zu machen, sondern die Kids auf die Lebens- und Berufswelt von morgen vorzubereiten. Ein guter Pädagoge kann mit Technik jetzt noch viel besser unterrichten, gute Technik braucht aber auch einen guten Pädagogen, dass sie sinnvoll genutzt wird. Pädagogik und Technik!

Und tatsächlich hat trotz Schulschließung so etwas wie Weiterentwicklung von Unterricht stattgefunden. Wenn wir diese Chancen jetzt auch im "normalen Unterricht" nutzen,...

9. Ehrliches Reflektieren der eigenen Wirksamkeit

Mit dem Distanzunterricht hat es den Verstärker der Wirksamkeit gegeben: Manches hat super geklappt, Einiges so lala und Manches gar nicht. Tatsächlich gibt es zahlreiche Studien und Veröffentlichungen zur Wirksamkeit von Unterricht und Digitalen Medien. Einfach nur digital machen darf uns nicht ausreichen, die Wirksamkeit dahinter sollte immer wieder ehrlich in Frage gestellt werden und an die eigene Klasse angepasst werden. Dazu könnten wir den Wissenschaftler in uns entdecken. Wenn Praktiker und Wissenschaftler in einer Lehrkraft aufeinander treffen, kann sich dabei viel Magie entwickeln. Wenn im Unterricht oder in der Schule etwas nicht funktioniert, ist es auch an Dir etwas zu ändern. 

Auch hier sehe ich den Teamgedanken als essentiell: Gelingensbedingungen aufstellen, im wertschätzenden Umgang den Dialog suchen,... wir haben so viel gelernt im letzten Jahr, meistens aus Fehlern. Diesen Mut zu Fehlern und daraus zu lernen, den wollen wir uns nicht mehr nehmen lassen. 

10. Die Chance als Chance sehen

Wenn man glaubt, alles irgendwie hinzubekommen bzw. dass alles gar nicht so schlimm ist, dann hat man auch eine Krise gut meistern können. Da wir Lehrer auch Vorbild sind, schauen die Kids mehr auf unsere Charakterzüge als uns lieb ist. Meine Erfahrung: Wenn du ihnen viel Mut und Optimismus entgegenbringst, dann klappt das ein oder andere vielleicht auch besser. In Deutschland haben wir ein bisschen das Problem, alles etwas düsterer und kritischer sehen. Das ist in vielerlei Hinsicht auch wichtig/richtig, aber manchmal täte uns ein wenig mehr Optimismus auch gut. In den letzten Monaten hatte ich mich ganz oft auch ganz viel geärgert. Aber seit Jahren begleitet mich ein Gebet, das ein amerikanischer Theologe verfasst hat:
Gott, gib mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Das prägt mich: ich kann das Stoßlüften nicht ändern, Corona ist nicht auf meinem Mist gewachsen, dass die Kindern manchmal lieber bei TikTok sind als in meinem Unterricht werde ich nicht ändern,... Aber ich kann jeden Tag einen Funken entfachen. Vielleicht ist morgen der Tag, an dem (m)ein Schüler den ersten selbstständigen Schritt macht, vielleicht lächelt mich heute einer an, weil ich ihn anlächle... Ich werde die Probleme der Welt nicht lösen, aber ich kann in meiner Klasse alles dafür tun, dass meine Kids lernen, an sich zu glauben. Die Chance als Chance sehen. 

10 Chancen habe ich für mich gefunden und ich glaube ich hätte noch viel mehr finden können. Was habe ich vergessen?