In den letzten Monaten wurde(n) ich/wir immer wieder danach gefragt, was wir denn jetzt im „Lernbüro digital“ machen. Was ist der Unterschied zum Flipped Classroom? Deshalb versuche ich das mit diesem Blogartikel etwas breiter zu beantworten, mit ein paar Tweets kommt man eben doch nicht so weit.
Gleichzeitig hoffen jetzt plötzlich Viele, dass man mit Flipped Classroom die Corona-Krise überwinden kann. Weit gefehlt. Mein Konzept baut auf die Interaktionen miteinander und hat NICHT das Video kucken im Sinn, ganz selten ist es ein vorbereitendes Element.
Für mich ist der „Flipped Classroom“ und das „Lernbüro digital“ das Gleiche. Im Jahr 2013 hatte ich aber nicht wirklich einen Namen im Sinn, als ich das selbstständige Arbeiten der SchülerInnen mit Hilfe digitaler Medien vorantreiben wollte. Meinen Ansatz sah ich als Konzept, nicht als Methode. Digital aufbereitetes Unterrichtsmaterial, um die SchülerInnen ins Zentrum des Lernens zu stellen und Eigenverantwortung gegenüber dem eigenen Tun zu fördern. Erst 2014 hatte ich vom Flipped Classroom erfahren und meinen Unterricht dann auch so benannt. Im Laufe der Jahre wurde mir aber bewusst, dass mit diesem Begriff eine Methode verbunden wird. Ein Erklärvideo wird vor dem Unterricht zur Vorbereitung aufgegeben, um dann den Unterricht schülerzentriert zu öffnen und sich vertiefter mit der Thematik auseinanderzusetzen. In einem Satz ist der Flipped Classroom so nicht zu erklären, steckt doch häufig sehr viel mehr dahinter. Ich sehe dahinter ein Konzept im Blended Learning Format, dass aber durchgehend übers Jahr schülerzentrierten Unterricht ermöglicht – mit einer Methodenvielfalt im Konzept. Daher bin ich letztes Jahr dazu übergegangen meinen bzw. unseren Unterricht in der Kooperation auch „Lernbüro digital“ zu nennen. Im dritten Jahr bin ich jetzt nicht mehr allein, sondern hab viele tolle Mitentwickler gefunden. Dazu weiter unten mehr.
Didaktische Überlegungen
Das Video war für mich schon immer ein wichtiges Element, um SchülerInnen selbstorganisiert arbeiten lassen zu können. Allerdings hatte ich in den letzten sieben Jahren sehr selten mein Erklärvideo vorab aufgegeben. Für den Mathematikunterricht kann man nach Bärbel Barzel et al (2016) fünf Standardsituationen identifizieren:
- Fragend-entwickelnde Erarbeitung
- Verfahren erarbeiten an Lösungsbeispielen
- Forschend-entdeckendes Lernen
- Sammeln – Sichern – Systematisieren
- Differenziertes Üben
Ein Erklärvideo vorab wird vielleicht der Situation 2 gerecht, zusammen mit h5p vielleicht noch der Situation 1, aber nicht den restlichen. Das ist auch in der heutigen Situation wichtig. Nur Video schafft keine Methodenvielfalt oder nachhaltige Zugänge. Daher war für mich und auch in unserer Kooperation klar, dass wir das Erklärvideo nur in sehr wenigen Fällen als Öffner für eine Lerneinheit verwenden wollen. Es ergeben sich in meinen Augen drei Szenarien für den Einsatz von Erklärvideos:
Variante 1: Ein Erklärvideo vorab um Instruktionen, Verfahren oder Lösungsbeispiele zu vermitteln. Als Beispiele seien das Lösen von quadratischen Gleichungen mit Hilfe der Mitternachtsformel oder der Aufbau eines Versuchs genannt. Etwas, was die SchülerInnen nicht selbst erarbeiten können, wird durch ein Erklärvideo vor dem Unterricht aufgegeben. (Situation 1/2)
Variante 2: Ein Erklärvideo zur Nachbereitung. Im Unterricht wird eine komplexe (offene?) Aufgabe oder ein Thema von den SchülerInnen selbst be-/erarbeitet und als Ergebnissicherung gibt es ein Erklärvideo vom Lehrer. Dies kann als Musterlösung in der Form "so hätte ich es gemacht" bei offenen Aufgaben geschehen oder als tatsächliche Erklärung zu einem bestimmten Thema dienen.
Variante 3: Ein Aufgabe bzw. ein Impulsvideo vorab und ein Erklärvideo zur Nachbereitung. Bei fast jedem Thema in der Mathematik bietet es sich an, dass man mit einer Problemstellung den Unterricht öffnet. Anhand dieser und den individuellen Herangehensweisen der SchülerInnen in der Vorbereitung kann man dann im Unterricht die Thematik, Thesen, Systeme,... erarbeiten lassen. Das Erklärvideo rundet die Aufgabe mit allem Nötigen an Informationen zur Ergebnissicherung ab. So wird vor allem den Situationen 3 und 4 Rechnung getragen. In unserer Kooperation sind die Lehrkräfte dazu angehalten, so häufig wie möglich nach dieser Variante Unterricht vorzubereiten.
In Zeiten von digital aufbereitetem Unterrichtsmaterial sollte man sich vielleicht auch daran orientieren: nicht das Video öffnet den Unterricht, sondern meistens rundet es die Aktivitäten als Ergebnissicherung ab. Man sollte kreativ überlegen, mit welchen Aufgaben/Impulsen man auch digital Unterricht öffnet und das ist in meinen Augen selten das Erklärvideo vorab.
Standard-Aufbau einer Lerneinheit
So ergibt das Video des Lehrers den Rahmen, in dem die SchülerInnen Halt finden können. Gleichzeitig soll aber der Klassenraum so geöffnet werden, dass Unterricht möglichst freiheitlich und schülerzentriert stattfinden kann.
Die Aufgabe bzw. der Impuls aus Variante 3 haben nicht jedes Mal die Form des Videos. Manchmal sind Aufgaben auf einem Arbeitsblatt zu fertigen, manchmal erfolgt die Erarbeitung über GeoGebra, das padlet kommt immer wieder für erste Ideensammlungen zum Tragen (Sammeln, Sichern, Systematisieren), Rechercheaufträge können Inhalt einer hinführenden Aufgabe sein... Alles mit dem Ziel, die Thematik möglichst entdeckend zu erarbeiten, aber damit schon zu Hause individuell zu beginnen.
Neben der Aufgabe und dem Erklärvideo gehören aber auch
- differenzierte Aufgabenpools mit den dazu passenden Lösungen,
- Ergänzungen zur Vertiefung oder zur spielerischen Abfrage (GeoGebra, Lernzirkel, bettermarks, learningapps,...)
- und zusätzliche Aufgaben zur Förderung digitaler Kompetenzen
zu dem Standard, wie eine Unterrichtssequenz im "Lernbüro digital gestaltet sein soll. Die Umsetzung ist dabei sehr unterschiedlich, nachfolgend Screenshots von vier verschiedenen Lehrkräften/Teams. Damit man weiß, wie die Materialien zum Einsatz beabsichtigt sind, gibt es auch eine Textseite mit "Dauer, U-Gespräch, Sonstiges", um es allen Lehrkräften in der Kooperation einfacher zu machen. Einen endgültigen Ablauf gibt es so nicht, nur die Berücksichtigung einer Vor- und Nachbereitungsphase im Flipped Classroom und die fünf Elemente für schülerzentriertes Unterrichten. Wenn in den Zeiten der Corona-Krise die wichtige Säule der Präsenz wegfällt, ist es umso wichtiger, kooperativen und kommunikativen Austausch digital zu denken. Die Kids müssen miteinander in Interaktion treten, sie brauchen ein Feedback und sollen vor allem darüber reden. Das Material allein ersetzt nicht den Unterricht.
Direkte Instruktion oder PBL?
Spricht man heute vom Traditionellen Unterricht, ist häufig die Direkte Instruktion (z.B. in Wiechmann 2011) gemeint. Der Lehrer in seiner zentralen Rolle als Vorbild und Vormacher zeigt den SchülerInnen wie etwas geht. Unterricht wird auf sieben Stufen zergliedert, der besonders effektvoll beim Erlernen bestimmter Dinge sein soll. Dabei muss nicht zwangsläufig der Lehrervortrag das zentrale Element sein, sondern auch angeleitete Aufgaben mit Hilfe von Arbeitsblättern zu lösen. Christian Füller sagt dazu süffisant Osterhasendidaktik dazu: der Lehrer konzipiert lauter kleine Häppchen, welche die SchülerInnen lösen und am Ende erfahren sie dann, warum sie das getan haben. So ist das natürlich falsch verstandene Direkte Instruktion, die Lernziele sollten von Beginn an klar sein. Überhaupt ist es nicht einfach nur normaler Unterricht, sondern muss viele Aspekte berücksichtigen, soll es am Ende effektvoll sein. Dem gegenüber scheint das Problemorientierte Lernen (z.B. Hmelo-Silver 2004) zu stehen. Stark verkürzt: ein Lernproblem wird erkannt und die SchülerInnen machen sich gemeinsam ans Werk, dieses zu lösen. Auch hier braucht es einen starken Lernbegleiter, der ermutigt, mit Strategien unterstützt, die Notwendigkeit des Hinterfragens und der Reflexion betont,... Im schulischen Kontext hat das Problemorientierte Lernen noch wenig Fuß gefasst. Zu starr sind meist die Lehrplaninhalte, so dass wirklich offene Aufgabenstellung meist in der Vertiefung und nicht über einen längeren Zeitpunkt stattfinden. Mit den kompetenzorientierten Lehrplänen hat dahingehend aber schon ein Umdenken stattgefunden. Meine Hoffnung: Gerade beim Unterrichten zu Hause ist der problemorientierte Ansatz ein viel besserer und könnte so häufiger den Einzug in die (virtuellen) Klassenzimmer halten. Dennoch braucht es auch hier einen starken Lernpartner. Ein Projekt bearbeitet sich nicht von alleine.
Problemstellungen im schulischen Kontext haben somit meist ein fertiges Ergebnis im Kopf, den Lehrplaninhalt, den es mit allen Facetten zu begreifen gilt. Hierfür sind dann Schritte mittels Direkter Instruktion geeignet. Darüber hinaus ist das Problemorientierte Lernen gerade bei jüngeren SchülerInnen schwer möglich, weil sie noch nicht wirklich gelernt haben, selbstständig zu arbeiten, geschweige denn mit offenen Aufgaben umzugehen: "Herr Schmidt, ich kapier des net, was soll ich denn da machen? Was ist denn die Frage?"
Diesen Problematiken versuchen wir im "Lernbüro digital" zu berücksichtigen. einerseits ist unser erstes Ziel, SchülerInnen ab der 5. Klasse immer wieder zum selbstständigen Arbeiten zu ermutigen und ihnen das damit verbundene "Lernen lernen" zu zeigen, gleichzeitig öffnen wir Unterricht meist mit einer (nicht immer) offenen alltäglichen Problemstellung und versuchen in die Präsenzphase (heute Schule daheim) immer wieder echte Probleme zum Lerngegenstand zu machen, wenn die Selbstständigkeit schon eine echte Auseinandersetzung ermöglicht.
Somit ist der Flipped Classroom nicht automatisch konstruktivistisch, wenn man das Video als zentrales Element nimmt, man kann damit vor allem in der Nachbereitung den SchülerInnen wieder eine Sicherheit geben, sollten sie in den problemorientierten Ansätzen völlig den Faden verloren haben. Da setzt auch eine Kritik an: sind problemorientierte Aufgaben problemorientiert, wenn es dazu ein Erklärvideo am Ende gibt? Nein, damit kann man aber entdeckend lernen und ein Erklärvideo erklärt nicht immer, sondern zeigt mitunter eine weitere Herangehensweise, ein Problem zu lösen.
Gut erforscht ist der Flipped Classroom mittlerweile und er zeigt oft sehr positive Effekte wie z.B. im Physikunterricht von Frank Finkenberg. Er fand heraus, dass die SchülerInnen im Vergleich zum traditionellen Setting seltener die Motivation verlieren und das Selbstverständnis für das Fach steigt. Ich selbst könnte noch weitere unwissenschaftliche Vermutungen aufstellen, aber das wird am Ende nicht pauschal auf jeden Flipped Classroom zutreffen. Vor allem dann nicht, wenn damit die Videolehre ins Zentrum gestellt wird. Die flankiert meinen Unterricht und macht ihn schülergerecht, das Lernen findet aber in den kommuikativen und kooperativen Prozessen im Unterricht, jetzt hoffentlich auch zu Hause statt:
Lehrerkooperation
Ob wir den "Deutschen Lehrerpreis" nun wegen des Unterrichtskonzepts gewonnen haben oder wegen der damit verbundenen Kooperation, ist für uns nicht feststellbar. Fakt ist, dass uns gerade die Zusammenarbeit mit den KollegInnen aus ganz Bayern in vielerlei Hinsicht hilft. Zum einen werden Kapazitäten geschont. Jede Schule oder maximal ein Lehrer erstellt ein Kapitel, der Rest kommt von den anderen Kollegen. Im Redaktionskurs werden alle Materialien (auch Schulaufgaben) hochgeladen und jeder übernimmt dann das in seinen Kurs, was für ihn passend ist.
Das führt dazu, dass man auch das Material der anderen "aushalten sollte". Zu oft ist es heute noch so, dass es jeder Lehrer ein bisschen anders machen täte und damit zu oft nur mit seinen eigenen Materialien unterrichtet. Wir haben erkannt, dass ähnlicher Content ausreicht. Denn das Herzstück ist die Präsenzphase und da ist die Begleitung der SchülerInnen das A und O, mal intensiver, mal mit mehr Freiheiten je nach Klasse und individuellen Lernmöglichkeiten. Befreit man sich vom Glauben, dass Content erstellen fertiger Unterricht ist, kann man seinen vollen Fokus auf das reflektierte Miteinander im Klassenzimmer richten - ein Geschenk.
2-3 pro Jahr treffen wir uns virtuell, um uns auszutauschen, um Fallstricke zu besprechen, einzelne Kapitel auf Wirksamkeit zu analysieren, unsere Arbeit zu vorzustellen und zu organisieren, aber vor allem um unser Tun kritisch zu reflektieren. Für interessierte Schulen gibt es eine Checkliste, bei weiterem Interesse verwenden sie ein Jahr unser Material. Bei weiterem Interesse verpflichten sich dann die Lehrkräfte selbst Content zu erstellen oder redaktionell über die bisher erstellten Materialien drüber zu gehen. Jeder soll seinen Teil dazu beitragen. Denn im Tun, im Erstellen und im Austausch erfährt man, warum die digitalen Komptenzen so wichtig sind und woran es aktuell scheitert: wir brauchen erst digital kompetente Lehrkräfte, um dann die SchülerInnen digital kompetent zu machen - vielleicht lernen es gerade viele im Reflektieren ihres Tuns während der Schule zu Hause.
Mittlerweile partizipieren sechs Schulen (es waren schon mal sieben ;-)) mit knapp 40 Lehrern an der Kooperation. Wir sind dankbar über Euer Mitwirken, auch wenn wir so langsam den Überblick verlieren, wer tatsächlich dabei ist.
Begonnen mit Pfuhl und Neunburg vorm Wald sind heute Erlangen, Ingolstadt, Amberg und Weißenhorn mit dabei. Überall haben wir tolle Lehrkräfte kennen gelernt, die offen sind für Neues aber auch ganz viele neue Ideen mit ein bringen. Win-Win-Win.
What's new?
Das frage ich mich ganz oft auch. Für mich ist die Form des Unterrichtens nicht mehr neu, ich hab da schon sehr viel dazu gebloggt. Auch waren ganz viele Pressevertreter im Unterricht, die sich das Ganze angeschaut haben. Eigentlich reflektiere ich das seit Jahren und habe meine Erfahrungen immer wieder auch publiziert - wenn auch nicht so toll wissenschaftlich wie Frank Finkenberg. Dennoch war ich immer in Kontakt mit Menschen, die mich geprägt haben und die mir Ideen für gelingenden Unterricht mitgeben konnten.
Aber es tauchen im Netz immer wieder neue KollegInnen auf, die sich von Neuem auf den Weg machen wollen. Daher habe ich noch einmal alles hier zusammengeschrieben, auch wenn man es mit einer Recherche auch schon andernorts findet. Mit dem "Deutschen Lehrerpreis" haben wir die einmalige Chance erhalten unser Konzept darzustellen. Lasst Euch inspirieren, oder auch nicht. Dann geht weiter, denn mein Blog und unsere Unterrichtsidee ist nicht die Spitze der guten Ideen, wir haben so viele tolle Beispiel in Deutschland zu gutem Unterricht. Man findet sie, wenn man will. Aber bitte - liebe LeserInnen - tut mir einen Gefallen. Schimpft nicht weiter darauf, wie mies unser aktuelles System ist und was wir alles nicht können. Es gilt so viele Schätze zu bergen, man muss nur genau hinsehen oder ausprobieren. Es wäre ja auch schade, wenn wir die aktuellen SchülerInnen noch mit guter Bildung vertrösten müssten, nur weil unser Plan dafür erst in ein paar Jahren greifen soll. Denn oftmals muss man in der heutigen Zeit feststellen, dass Pläne für die Zukunft in der Zukunft manchmal schon wieder obsolet sind. Wer im reflektierten Machen einen Flow bekommt, für den ist es dann nicht on top, sondern der kann dann die Digitalität mitgestalten und seine SchülerInnen fit für das 21. Jahrhundert machen.