Es ist manchmal ganz schön anstrengend, auf Twitter unterwegs zu sein. Dort bewegen sich Lehrer, die Ihre ersten Ideen rund um die Digitalisierung posten und gleichzeitig Koriphären, die in ihren Denkprozessen schon eine erstaunliches Fortschreiten vollzogen haben. Diese prallen jetzt in 280 Zeichen aufeinander und das kann nicht immer gut ausgehen.
Anlass für diesen Blogartikel war ein Tweet von einer Grundschulprofessorin.
Der geschätzte Axel Krommer hatte in Gauting (wahrscheinlich - ich war nicht da, hab ihn aber anderswo schon gehört) einen sehr griffigen und überlegten Vortrag zur Kultur der Digitalität gehalten. Anschließend haben wohl Kollegen von ihren ersten Erfahrungen im Unterrichtseinsatz berichtet, die in den Augen etablierter Didaktiker nicht zum Vortrag passten.
Ich selbst versuche gerade an meiner Schule ein Medienkonzept zu schreiben und die Transformation zu moderieren und zu initialisieren. Ich sehe sehr wohl, was Herr Krommer meint und wie veränderte Bildung aussehen sollte, aber ich hab auch schon einen eigenen 6jährigen Prozess hinter mir. Die Kollegen, die ich versuche, ins Boot zu holen, verschrecke ich mit Aussagen wie "Man darf nicht einfach nur machen" oder "Es braucht keinen Mehrwert für den Einsatz" oder "Wir arbeiten sowieso für ein sterbendes System". (Verschrecken meine ich im Sinne von abschrecken, überfordern, Symptome von Stress hervorrufen oder einfach nur zu angeheizten Diskussionen führen.)
Ich habe aber den Anspruch, alle mit ins Boot zu holen und nicht nur die, die ein verändertes Mindset zulassen. Daher will ich nicht die Thesen von Herrn Axel Krommer widerlegen, sondern beschreiben, warum das Gegenteil zu Beginn einer Veränderung wichtig ist.
JUST DO IT - einfach machen
Freilich soll man nicht einfach digitalisieren, sondern man soll das reflektiert und analytisch machen. Doch das braucht Zeit, die wir an Schulen immer seltener haben. Wenn wir etwas ändern wollen, geht das immer nur schrittweise und nicht auf einmal und nicht gleich sofort gut.
Es ist für mich wie beim Lernen der SchülerInnen: ich kann mich nicht vorne hinstellen und ihnen sagen, wie etwas geht bzw. welche Fehler sie meiden sollen. Wenn sie etwas nachhaltig begreifen
wollen, müssen sie Fehler selber machen, ausprobieren und dann reflektieren. Das Lernen kann nicht nur durch Instruktion geschehen, es muss einen individuellen Wert und eine individuellen Weg
dorthin beinhalten.
Hier verstehe ich dann manche Reaktionen und die "Nike-Didaktik" nicht. Ich bin manchmal so froh, wenn einer wenigstens ein kahoot-Quiz ausprobiert und einsetzt. Das sollte nicht der letzte
Schritt sein, wird aber häufig als solcher verteufelt. Oftmals stecken auch tolle Unterrichtsstunden dahinter oder es spiegelt nur einen geringen Teil wider. Bei uns wurde ziemlich oft der
Einstieg kahoot gewählt, um dann zu erkennen, dass die digitalen Kompetenzen damit nur sehr unzureichend errungen werden.
Reflektieren und analysieren auf Basis der eigenen Erfahrungen, das geht erstaunlich oft und gut bei Lehrkräften, aber einfach machen, das ist eher eine Seltenheit. Überhaupt scheint es mir bei dem Thema mehr Redner zu geben, die sich in Meta-Ebenen verlieren, als solche die konkret werden.
Hinzu kommt, dass die digitale Welt häufig eine fremde Welt unter uns Lehrern ist. Nicht selten besteht die Hauptaufgabe eines Systemadministrators darin, Passwörter neu zu vergeben oder wiederholt zu zeigen, welches Kabel eingesteckt sein muss, dass die Soundanlage funktioniert.
Wenn sich jetzt ein Kollegium auf den Weg machen soll, kann ich nicht Konzepte und Ideen über alle stülpen und erwarten, dass sich Unterricht transformiert. Jeder muss so anfangen, wie er es als sinnvoll erachtet. Das hab ich vor sechs Jahren auch gemacht und heute verstehe ich endlich, was Herr Krommer meint. Aber deswegen erwarte ich nicht gleich von jedem meiner Kollegen adhoc-Schritte, für die sie eigentlich eh sehr wenig Zeit haben.
Motiviere mit der "Nike-Didkatik". Denn: ein Lehrer ist bisher nicht verpflichtet, sich tiefer gehend mit der Digitalisierung zu befassen.
Mehrwert
Gleiches gilt für die Mehrwert-Debatte. Klar braucht es keinen Mehrwert eines Werkzeugs, wenn man es im Unterricht oder zu Projekten einsetzen will. Es reicht aus, wenn damit z.B. mit oder über das Medium gelernt wird. Das muss dadurch nicht besser sein als das Analoge.
Doch diese Diskussion mit Kollegen zu führen, die bisher noch keinen Schritt vor den anderen gesetzt haben ist mühselig, weil sie erst begriffen wird, wenn man sich intensiv mit den digitalen Kompetenzen auseinandergesetzt hat und kreativ genug war, fachliche mit digitalen Kompetenzen zu vermischen.
Um meine Kollegen mit ins Boot zu holen, bemühe ich immer wieder die Mehrwert-Debatte. Ich will, dass sie auch eine fachliche Sinnhaftigkeit erkennen, nicht nur eine gesellschaftliche. Am häufigsten ist immer die Aussage "das geht doch auch analog, da brauch ich doch kein Smartphone". Na klar, also zeige ich Ihnen etwas, dass entweder sinnvoll ist oder Spaß macht, um dann mit Ihnen herauszufinden, wie man dem Lernen noch besser gerecht werden kann - ohne Mehrwert. Die Diskussion um diesen Begriff ist aktuell eine Sackgasse, weil er zu selten verstanden wird. Wenn ich eine Schule voran bringen will, dann gehe ich auf die Kollegen ein und grenze mich nicht von ihnen ab indem ich eine Diskussion entfache, die sie nicht nachvollziehen können.
Motiviere mit dem Mehrwert. Denn: ein Lehrer ist bisher nicht verpflichtet, sich tiefer gehend mit der Digitalisierung zu befassen.
Palliative Didkatik
Mit diesem Begriff kann ich persönlich gar nichts anfangen, da er einen Rahmen setzt, der einen eher verzweifeln als euphorisch modernisieren lässt. Wir unterrichten also in einem System, dass in der aktuellen Form dem Untergang geweiht ist und irgendwann sterben muss? Vielleicht muss das System irgendwann anders aussehen und vielleicht muss sich demnächst Einiges ändern, aber bei aktuellen Veränderungen im Unterricht von Palliativdidkatik zu sprechen, halte ich für weit übers Ziel hinausgeschossen (oder einfach gut für die Sache provoziert).
Das Bildungssystem in Deutschland ist nicht das schlechteste, wir mögen vielleicht den Anschluss bei der Digitalisierung verpasst haben und bei den PISA-Tests schlechter als erwartet abschneiden, aber irgendetwas muss auch richtig laufen, wenn wir derartig kreative Köpfe und Ideen hervorbringen können.
Wer bei Innovation von Unterricht über ein komplett neues System spricht, wird unterm Strich gar nichts erreichen. Denn dann werden einfach alle so lange warten, bis dieses neue System flächendeckend da ist. Machen es nur ein paar wenige, haben wir wieder das Leuchtturmproblem.
Wir sollten nicht die wenigen Motivierten entmutigen indem wir Ihnen sagen, dass sie für ein sterbendes System arbeiten. Wir sollten sie ermutigen, reflektiert Unterricht im bestehenden System zu verändern. Denn nur so kann sich im ganzen System etwas ändern. TopDown ein neues Lernen wird es niemals geben, soweit lehne ich mich aus dem Fenster. Wenn man es nicht einmal schafft, vorhandene Gelder an deutsche Schulen auszugeben oder gleiche Standards für Abschlussprüfungen zu setzen, dann wird es erst recht nicht ein einheitlich neues Lernen geben, das jede Schule revolutioniert.
Motiviere mit der Veränderung des bestehenden Systems. Denn: ein Lehrer ist bisher nicht verpflichtet, sich tiefer gehend mit der Digitalisierung zu befassen.
Fazit
Wenn Didaktiker und Praktiker in 280 Zeichen aufeinander treffen, geht das nicht immer gut aus. Und das, obwohl wir voneinander lernen und profitieren sollten. Mit den Begriffen "Nike-Didaktik", "kein Mehrwert" und "Palliativer Didaktik" setze ich einen Rahmen, der provoziert und eifrige Lehrer im besten Fall demotiviert. Im normalen Fall werden sich Lehrkräfte einfach nur von der Sache abwenden, man ist ja bisher nicht verpflichtet, sich tiefer gehend mit der Digitalisierung zu befassen.
Meinetwegen sind wir Lehrer noch nicht soweit, Unterricht kohärent mit den aktuellen Wissenschaften vor allem digital zu gestalten. Mit sich darüber lächerlich machenden Tweets bewirkt man aber nicht, dass sich Kolleginnen und Kollegen auf den Weg machen. Es bewirkt, dass man sich über die Leute im Elfenbeinturm aufregt, die keine Ahnung vom pöbelnden Volk haben.
Seit 12 Jahren unterrichte ich Mathe und jedes Jahr kommen die Schüler mit den selben Fehlern. Da ist es meine Aufgabe als Lehrer, den Weg des neuen Schülers zu begleiten, ihn zu motivieren und ihm zu helfen.
Manche Kollegen stehen halt am Anfang und setzen erst nur einen QR Code ein, manche gestalten digitale Lernbüros, andere arbeiten projektorientiert, losgelöst vom Klassenverband und dem Ort Schule. Für jeden muss es die Möglichkeit geben, sich gemäß seines (aktuell freiwilligen) Entwicklungsstandes weiterzuentwickeln. Sich dann über einen Kahoot-Workshop und Aktionismus aufzuregen macht mich fassungslos.