Kritik und Vorurteil: Flipped Classroom

Letzte Woche habe ich mit diesem Blogpost versucht, meine Gedanken zum Flipped Classroom nach fünf Jahren zu bündeln.

Dies hatte ich auch als eine Art Antwort auf einen (eher kritisch) reflektierten Blogpost von Dejan Mihajlovic verstanden. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei Dejan bedanken, dass dieser meist sehr konstruktiv gelungen ist.

Im Folgenden möchte ich auf ein paar weitere Thesen, Vermutungen oder auch Ideen Dejans eingehen. 

Ich gehe dabei von meinen Interpretationen des Flipped Classrooms aus, ich kann nur in bedingtem Maße für die Konzepte meiner Kolleginnen sprechen, das steht mir auch nicht zu. Öffentliche Beschreibungen von Unterricht werden immer von subjektivem Empfinden (der Betrachter) geleitet sein. Man kann Unterricht öffentlich wirksam positiv darstellen, auch wenn die Realität eine ganz andere ist. Im Umkehrschluss ist es viel fataler: wenn gute LehrerInnen Ihren guten Unterricht darstellen wollen, schaffen sie es selten, allen Facetten des Lernens gerecht zu werden. Je nach Expertentum,  Fakultät und Sichtweise über Bildung fehlt etwas oder hat sogar gravierende Mängel. Daher gehe ich auf die Kritik mit den Argumenten ein, die zu meinem Unterricht und zu den Inhalten meiner Workshops/Vorträgen passen.

Nürnberger Trichter

Du (Dejan) verwendest im Zusammenhang mit dem Flipped Classroom den bekannten sehr negativ beladenen Begriff "Nürnberger Trichter" sowie Input. Das ist für mich eine sehr übertriebene Darstellung, die vielleicht auch eine provozierende Richtung vorgeben sollte. Zur Sache: Flipped Classroom heißt in meinen Augen nicht, dass Erklärvideos (den Begriff finde ich so auch am besten) jedes Mal vor einer Unterrichtsstunde als Hausaufgabe aufgegeben werden.

Nehmen wir z.B. das Thema Brüche addieren. Hier ist es mMn in den meisten Kontexten sinnlos, den Schülerinnen vorab ein Erklärvideo zu geben, damit sie dann die Regel im Unterricht nur noch mehrfach anwenden müssen. Daher gebe ich für so ein Thema ein Impulsvideo als Hausaufgabe auf:  

In der Grundschule kennt man das als vorbereitende Hausaufgabe, ich verwende hier die Videoform. Es macht imho tatsächlich einen großen Unterschied, ob man sich mit Texten oder mit einem Video auf den Unterricht vorbereitet. Aber auch darüber lässt sich streiten, meine Kollegen nehmen stattdessen ein AB und verzichten auf ein Video. Im Unterricht wird entweder im Gespräch und mit mir (oder in höheren Klassen einem Schüler) als Moderator oder im (Think)-Pair-Share das Vorbereitete zusammen getragen, Thesen aufgestellt, Fehler identifiziert, weitere Möglichkeiten diskutiert,... Die Ergbnissicherung findet dann im Plenum durch die Schüler statt, allerdings wird davon kein Hefteintrag angefertigt. Dies verschiebe ich mit einem Erklärvideo auf die Hausaufgabe zur Nachbereitung: https://youtu.be/KwuaBSioQpY

So gibt es zahlreiche Einsatzszenarien für Entdeckendes Lernen, tatsächlich laufen 90% meiner Stunden so ab, auch wenn die Zusammenarbeit und die Diskussion zur Themenerarbeitung mit den vorbereiteten Hausaufgaben methodisch und auch in der Länge/Intension variieren. Bei Verfahren setze ich das Erklärvideo aber auch zur Vorbereitung ein, fachdidaktisch worked examples (Lernen mit Lösungsbeispielen) genannt - siehe auch Christian Spannagel in "Flippig sein wenns passt". Manchmal setze ich aber auch ein echtes "Input-Video" zur Vorbereitung ein, dann wenn ich mir nicht sicher bin, ob mit einer vorbereitenden Hausaufgabe nicht zu viele Sackgässen gestürmt werden. Besipielsweise habe ich noch keinen entdeckenden Kniff herausgefunden, wie man den SchülerInnen "Brüche dividieren" entdeckend ohne Taschenrechner lehrt. Im Gastbeitrag bei Christian Spannagel und auch hier habe ich diese Thematik etwas vertieft.

Input ist sehr facettenreich, z.B. auch organisatorisch. Meine Beobachtung: in selbstentdeckenden Lerneinheiten greifen die Lehrer durch einen roten Faden und eine starke Lenkung in der Moderation oft so ein, dass ich selbst hier von Lehrerzentrierung (Input?) sprechen würde. Input ist für mich das, was ein Lehrer an Informationen geben muss, damit Lernen gelingt. Je mehr es nur um Organisatorisches  und konstruktives Feedback geht, desto nachhaltiger wird lernen. Nürnberger Trichter? Nun ja, manchmal braucht man halt auch starke Gegenpole, um den Gegenüber in die Diskussion zu bringen ;-) Ich sehe vor allem das Potential: usefull statt useless

4K - im Flipped Classroom?

Ich habe ehrlich gesagt noch wenig Ahnung davon, was genau mit 4K gemeint ist und wie ich das in meinen Unterricht bestmöglich implementiere. Ich möchte Dir hier ein paar umgesetzte Ideen aus meinem Unterricht nennen, die vielleicht in diese Richtung gehen, ohne näher darauf einzugehen:

  • verschiedene Kreise legen und deren Länge berechnen und in der Gruppe vergleichen, später im Plenum den anderen vorstellen/vergleichen/diskutieren (kam mir gleich bekannt vor ;-))
  • Stamm-/Expertengruppen zur verschobenen Normalparabel mit unterschiedlichen Aufträgen
  • gemeinsames Zubereiten von Bananenmilch; direkte Proportionalität durch veränderte Personenzahl
  • Think-Pair-Share zur Veränderung einer Potenzfunktion (unterschiedliche Exponenten ausprobieren, These aufstellen, mit anderen vergleichen, kommentieren,...)
  • Brüche mit Schokoladen und Legos darstellen und für die anderen dokumentieren
  • gemeinsames Erstellen eines Lösungsmusters (jeder eine andere Aufgabe) mit anschließender Überprüfung -> Kommentierung der geposteten Ergebnisse im Padlet beim selber rechnen
  • Aktives Plenum auch in Kleingruppen
  • Veränderung von Diagrammen durch Veränderung der Einheiten auf der y-Achse -> traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast.
  • gegenseitige Korrektur von Aufgaben, Tandem-Arbeit, ständig wechselnde (zufällige) Sitzordung
  • ...

Ich weiß nicht, inweiweit diese Beispiele dem 4K-Modell gerecht werden aber ich kann behaupten, dass in meinem Unterricht viel mathematisch kommuniziert wird, viel darüber gestritten wird und ich oft mehrere Zimmer zum Unterrichten bräuchte, weil die Arbeitsatmosphäre manchmal Mitschüler oder Nachbarklassen stört. Alleine gearbeitet wird bei mir selten und nur dann, wenn wir uns auf einen Test vorbereiten. Ansonsten sind die Kids immer dazu angewiesen, sich mit ihrem Nachbarn abzustimmen, wenn auch gerade sonst keine der oben genannten Methoden angewendet wird. Kritisches Denken schaffe ich selten anzuregen, dabei geht es meistens um die oben genannten Kommentare, das eigene Lernen, das Suchen von Fehlern, das Aufdecken anderer Lösungswege,... Kreativität kann ich im Fach Mathematik noch am schwersten greifen. Für mich beschränkt sich dies aktuell in den im Buch gestellten offenen Aufgaben aus dem Alltag oder den haptischen Umsetzungen von Mathematik (z.B. Strick mit Knoten beim Pythagoras), dem Modellieren von alternativen Zugängen oder dem Erstellen von eigenem Content (Lernen durch Lehren) Richtig offen ist das in den meisten Fällen nicht, Mathematik hat zu oft eine Lösung und im Lehrplan der bayerischen Realschulen zu viele Inhalte, die vermittelt werden müssen. 

Flipped Classroom ein Hype?

Es ist - wie es mit der negativen Kritik auch schon festgestellt wurde - wohl keine Revolution des Unterrichts, dazu müsste mehr passieren. Darüber hinaus ist es auch keine Innovation, es geht ja nur um den aus der Grundschule und schon lange bekannten vorbereitenden Unterricht. Es ist nur das Element Video dazu gekommen, das eben aber auch nicht immer dabei ist/sein soll. Trotzdem sehen darin viele meiner WS-Teilnehmer eine Innovation, weil sie in dieser Herangehensweise eine Möglichkeit sehen, Ihren Unterricht endlich schülerzentriert zu öffnen. Das ist auch ein Schritt zur Verbesserung der Bildung, denn unterm Strich sehe ich die Unterrichtsqualität weitaus schlechter als sie aktuell diskutiert wird.

Kein Hype, keine Revolution, aber eine Vergrößerung der Methodenvielfalt und vielleicht ein Weg zu mehr mobilem Lernen und Professionalisierung der Lehrer (im bestehenden System). Meine These: Der Flipped Classroom ist ein sinnvolles Brückenkonzept vom analogen Unterricht zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Darin können digitale Kompetenzen - wie im Schreiben der Kultusministerkonferenz gefordert - angebahnt und ermöglicht werden. Gleichzeitig erlernt der Lehrer bei der Erstellung von digitalen Materialien diese wichtigen Kompetenzen selbst, um sie dann reflektiert und didaktisch sinnvoll vorbereitet auch bei den SchülerInnen zu ermöglichen. (und nein, nicht durch Input und einem Erklärvideo!!!) Es ist aber vor allem ein Konzept, das jetzt schon möglich ist, das jetzt schon Dinge ermöglichen kann und vor allem jetzt schon Akzeptanz bei LehrerInnen findet, die dem "Digitalen" vorher abgeneigt gegenüber standen.

Vielleicht ist es ja aber auch folgendes Rezept gewesen, dass der FC trotz weniger Anhänger immer bekannter wurde: Er ist im ersten Moment einfach und logisch nachvollziehbar. Mich verschrecken manche Diskussionen auf Twitter und ich klicke mich dann durch google, um den Begrifflichkeiten hinterher zu kommen. Werden nicht dadurch auch potentielle "Beweger" verschreckt, wenn wir ins kleinste Detail öffentlich diskutieren? So eine Blogparade finde ich sehr geschickt, hier kann man seine Facetten besser rüber bringen. Die 140 Zeichen werden mir immer unsympahtischer, wenn es um das mir so wichtige Thema Bildung geht. Schule ist mehr als die Diskussionen ein paar weniger in so wenigen Zeilen, ohne der anderen Reaktionen zu sehen.

Diskussionen

Eigentlich hätte ich es auch bleiben lassen sollen, Dir zu antworten. Denn Dein Blog war klasse und hat viele Aspekte aufgezeigt, wie man den FC schlecht machen kann. Ich sehe darin ein paar Vorurteile, weil ich durch meine fünfjährige Erfahrung eine andere Sichtweise habe. Ich habe Dir geantwortet, weil man anscheinend heute Kritik nicht mehr stehen lassen darf.

Trotzdem werde ich mich wieder darauf beschränken, meine Erfahrungen zu teilen. Ich habe an meiner Schule, bei meinen Workshops und der großartigen Lehrerschaft, die sich bei Twitter #BayernEdu nennt so viele Diskussionen im realen Leben mit Didaktikern, Pragmatikern und DigitalGegnern, ich hab nicht die Kraft, das auch noch auf 140 Zeichen zu zwingen, vor allem weil der Ton dort oft um einiges schärfer ist.

Vielleicht bin ich auch deshalb manchmal etwas angekratzt, wenn jemand zum 10. Mal einfach schreibt, er findet das nicht gut. Ich bin stolz auf meinen Unterricht, lasse mich gerne zur Weiterentwicklung inspirieren, bin aber froh, wenn andere die Diskussion um die Zukunft führen. Da lese ich dann gerne mit und versuche meine Schlüsse für meinen Unterricht daraus zu ziehen.