Über vier Jahre ist es nun schon her, dass ich begann Erklärvideos in meinem Unterricht einzusetzen. Anfang 2013 fand ich auf YouTube noch sehr wenige gute Videos
(Daniel Jung war schon dabei), so dass für mich schnell fest stand:
ich möchte selbst Videos erstellen. Knapp 500 Videos und zahlreichen Workshops und
Fortbildungen später möchte ich heute ein kleines Fazit ziehen und mein Projekt beenden. In acht verschiedenen Klassen habe ich meinen Unterricht umgedreht und komme so auf insgesamt 15
Flip-Jahre in fünf verschiedenen Jahrgangsstufen. Letztes Jahr habe ich dabei vier Klassen "umgedreht".
Freilich hatte ich nicht in jeder Klasse die Erfolge wie in meiner Projektklasse, aber bisher waren die
Ergebnisse am Ende des Schuljahres nie schlechter als zu Beginn. Das motiviert mich derart, dass ich für mich und meinen Flipped Classroom jetzt das Projekt-Siegel ablege und zu meinem
Standardunterricht erkläre.
Ein Fazit gleich vorne weg: Es waren nicht die Videos die meinen Unterricht besser gemacht haben und manchmal verzichte ich heute sogar darauf, obwohl ich bereits
ein fertiges hätte. Aber es waren die Videos, die mir (geschickt eingesetzt) Freiraum verschafft haben für zahlreiche wertvolle Methoden, für (echte) Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der
SchülerInnen und vor allem dafür, mehr Coach und Motivator zu sein als zuvor. Letztendlich habe ich durch die Videos und die offenen Lernformen eine Unterrichtsentwicklung vollzogen, die ich nach
meinem Referendariat nicht für möglich gehalten hätte.
Pro und Contra
"Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt." Dieser Auszug aus einem Liebesgedicht von Goethe passt für mich in einer augenzwinkernden Weise zur aktuellen Diskussion um den Flipped Classroom. Während die einen (wahrscheinlich zähle ich da auch immer wieder dazu) gerne und freudestrahlend von Ihrem Unterricht berichten, sehen andere darin eine Verschlechterung. Mir fehlt da machmal ein wenig die Mitte, reflektiert und sachlich.
Tatsächlich scheint es wie bei vielen Konzepten und Methoden so zu sein, dass es einerseits darauf ankommt, wie der Lehrer seinen Flipped Classroom aufzieht (und NEIN, es ist definitiv kein Fc gleich dem anderen FC) und wie andererseits die persönliche Einstellung zur Thematik ist. Früher war mir die Gruppenarbeit ein Dorn im Auge: Egal wie ich sie auch vorbereitet hatte, welche Tipps von Seminarlehrern bzw. Dozenten ich auch berücksichtigte, ich hatte nie das Gefühl, daraus könne irgendetwas Gutes entstehen. Dementsprechend setzte ich sie ungern ein, ich war von der Erwartung geleitet, das funktioniert nicht. Heute lache ich da natürlich drüber, sind doch z.B. das Think-Pair-Share oder die StEx-Gruppen meine bevorzugten Methoden, die heute auch super funktionieren.
Meine Vermutung: Neben der didaktischen Ausbildung einer Lehrkraft kommt es auch immer darauf an, welchen Wert eine Methode für einen selbst hat. So kann man mit
einem didaktisch guten Konzept tollen Unterricht und ohne Überzeugung auch schlechte Erfahrungen vor SchülerInnen machen. Es ist in meinen Augen nicht notwendig jede schüleraktivierende Methoden
zu kennen, aber man sollte ein paar haben, die für sich und die eigenen SchülerInnen WIRKLICH funktionieren. Man sollte sich dabei nur immer wieder hinterfragen, wieviel echte Selbstständigkeit
bei den SchülerInnen bleibt und wie oft man als Lehrer einschreitet bzw. lenkt. Echte Selbstständigkeit gibt es nur, wenn der Lehrer sich dann auch wirklich irgendwann überflüssig machen kann und
Mechanismen wie Selbstreflexion oder gegenseitige Korrektur bzw. Meinungsaustausch in bestimmten Phasen des Unterrichts auch ohne seine Impulse funktionieren.
Didaktischer Rückschritt?
Vorne weg: Ja, mit dem Einsatz von Videos kann man viel falsch machen. Erklärt man vor jeder Stunde 15 Minuten lang idiotensicher Sachverhalte, sprengt das einerseits dauerhaft die Kapazitäten des jugendlichen Gehirns (es muss viel auswendig lernen), gleichzeitig führt man Unterricht immer auf dasselbe Schema: Lehrer macht immer vor, SchülerInnen machen immer nach. Das kann dauerhaft nicht im Sinne einer ausgewogenen Didaktik sein. Flipped Classroom darf man aber auch nicht als Methode missverstehen. Es ist vielmehr ein Konzept, ein Rahmen, der Unterrichtsanteile austauscht, so dass wertvolle Elemente wie Kommunikation und Kollaboration im Unterricht statt finden und weniger wertvolle wie das Tafelbild abschreiben oder einfachere Impulsaufgaben erledigen zu Hause vollzogen werden. In der Grundschule kennt man das schon lange als vorbereitende Hausaufgabe. Wie man hier mit Videos auch konstruktivistisch arbeiten kann, hatte ich bereits in diesem Artikel beschrieben. Kritiker des Formats Video betonen immer, dass in einem kurzen Video zu viel Inhalt fehlt und zahlreiche Zugänge nicht beachtet wurden. Das mag für die 3-7 Minuten eines solchen Videos stimmen, aber daran kann man doch nicht eine Unterrichtsstunde messen. Weitere Zugänge, Diskussionen, Herleitungen, haptische Elemente, Projekte,... das alles findet in meiner Doppelstunde statt. Ich gehe nicht davon aus, dass mit einem kleinen Video bereits alles verstanden wurde oder jede Aufgabe nun schon gelöst werden kann. Aber ich habe eine Basis, mit der viele in der Klasse auch ohne meine Hilfe schon die nächsten Stufen erklimmen und dabei auch andere mitnehmen können.
Der Flipped Classroom braucht für jedes Fach, für jede Jahrgangsstufe, für jede individuelle Klasse und auch für jeden Lehrer eine fachdidaktische Anpassung. Allerdings darf man bei der Vielzahl von didaktischen Lehrwerken auch nicht vergessen, dass es am Ende der Schüler ist, der etwas lernen soll. Am Mittwoch in der 6. Stunde nach vier Stunden Deutsch-Schulaufgabe ist mein Lernzirkel vielleicht einfach nicht mehr produktiv, so wertvound gut vorbereitet er auch sein mag. Bei meiner achten Klasse herrschte die so genannte Mathe-Angst vor: bloß nichts falsch machen und am besten gar nicht erst ausprobieren, sondern einfach geduldig auf die Lösung warten. Da sind die konstruktivistischen Elemente zu Beginn auch nicht zielbringend. Die Videos in der vorbereitenden Hausaufgabe waren da mein Türöffner zur Teilnahme am Unterricht, so dass später mit Impulsen bei der vobereitenden Hausaufgabe sogar Entdeckendes Lernen möglich war. Ich habe lieber motivierte SchülerInnen, die gerne in meinen Unterricht kommen und gut lernen können, als dass ich mich von jeder didaktischen Pflicht vereinnahmen lasse. Ich nehme gerne die Hinweise von Wissenschaftlern an und habe daraus schon wertvolle Impulse für meinen Unterricht gewonnen. Allerdings ist mein Flipped Classroom auch erfolgreich (und in den Augen anderer Didaktiker auch sehr wertvoll), so dass ich die völlige Ablehnung des Konzepts manchmal nicht verstehen kann.
Digitale Bildung
Im Zuge der Diskussion um "Digitale Bildung" hatte der Flipped Classroom schon eine Art Hype oder hat ihn immer noch. Genau genommen ist es aber nicht eindeutig das, was sich die meisten darunter vorstellen. Digitale Bildung bedeutet, dass die SchülerInnen z.B. selbst Content erstellen oder Coden lernen, um für die Welt des 21. Jahrhunderts vorbereitet zu sein. Beim Flipped Classroom digitalisiert der Lehrer eigentlich nur das, was zu seiner Lehre gehört. Das ist im engen Sinn eine Digitale Lehre, aber noch keine Digitale Bildung. Trotzdem glaube ich, dass SchülerInnen durch den FC indirekt auf diese Weise gebildet werden. Durch das Vormachen und Nutzen von digitalen Elementen wird der Lehrer zum digitalen Vorbild, er nutzt es vor allem sinnvoll und leitet den Nutzen an. Gleichzeitig gewinnt man durch das Konzept Zeit, um die SchülerInnen selbst aktiv werden zu lassen. (wie z.B. hier)
Für mich ist es ein langer Weg, 4K im Unterricht zu erreichen. Mein erstes Ziel ist es, SchülerInnen wirklich zum selbstständigen Arbeiten zu bringen (also auch kommunizieren und zusammen arbeiten) und mich dabei als Lehrer ein bisschen überflüssig zu machen. Darauf aufbauend versuche ich dann immer wieder Wege zu gehen, die gerade das kritische Denken und die Kreativität fördern. Das schaffe ich aber nicht jede Stunde, manchmal gehts halt auch einfach nur um den Logarithmus.
Projektende - Projektstart
Nach dem eigenen Projekt ist vor dem gemeinsamen Projekt. Zu siebt erstellen wir dieses Jahr Unterrichtsmaterial für kompetenzorientiertes und selbstständiges Arbeiten unserer 5.Klässler. Zusammen mit Ferdinand Stipberger von der Realschule Neunburg vorm Wald teilen wir Lehrer von der Inge Aicher Scholl Realschule in Pfuhl die Arbeit auf und "befruchten" uns im besten Fall mit neuen Ideen, didaktischen Kniffen und auch Arbeitserleichterung. Mit Georg Wiesmann teile ich mir dieses Jahr die Arbeit für die 10. Klasse. So leben wir auch als Lehrer das gemeinsame Arbeiten, dass wir selbst von den SchülerInnen einfordern, um Sie auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten.
Danke an dieser Stelle besonders an die Community, exemplarisch Sebastian Stoll, der in unzähligen Gesprächen immer wieder für meine und auch unsere Reflexion herhalten muss. Digitale Bildung heißt auch, seinen Unterricht unter wissenschaftlichen und fachdidaktischen Aspekten immer weiter zu entwickeln und ihn jeden Tag ein Stückchen besser zu machen. Dabei werden weiterhin auch mir als Lehrer Fehler passieren, die es dann reflektiert zu ändern gilt. Aber letztendlich ist es doch auch genau das, was ich im Fach Mathematik bei den SchülerInnen unter Lernen verstehe: Zeit haben, um auch Fehler zu machen und nicht auf das fertige Rezept zu warten.
Nachtrag: Mittlerweile ist auch rund um diesen Artikel eine Diskussion bezüglich Kritikfähigkeit entstanden. In diesem Zusammenhang möchte ich auf drei weitere Artikel verweisen, die sich kritisch und reflektiert mit dem Thema Flipped Classroom auseinander setzen.
Christian Spannagel: Flippig sein, wenns passt
Dejan Mihajlovic: Wenn YouTube Schule macht, muss man nicht ausflippen
Michael Gieding: Nicht flippig genug