In diesem Jahr hat sich Einiges geändert. Nach meiner 2,5 jährigen Erfahrung mit Flipped Classroom in meiner Projektklasse hatte ich dieses Schuljahr wieder drei Matheklassen in meinem Stundenplan. Motiviert von den Erfolgen wollte ich alle drei Klassen flippen. Gleichzeitig bekam ich immer mehr Anfragen zu Vorträgen und war dadurch viel in Deutschland unterwegs. Darüber hinaus wurde der Flipped Classroom auch immer bekannter, nicht zuletzt durch unseren gewonnen Preis, Radiobeiträgen und Zeitungsartikeln. Dadurch mehrten sich aber auch die Kritiker und zweifelnden Stimmen. Es ging nicht mehr nur darum, selbst mit meinem Unterricht zufrieden zu sein, ich musste mich auch fragen, ob das Konzept übertragbar ist und ob die kritischen Stimmen nicht auch zu recht an diesem Unterricht zweifeln.
FC in anderen Klassen
Eine fünfte, eine achte und eine neunte Klasse bekam ich in diesem Schuljahr zugewiesen. Top motiviert wollte ich alle drei Klassen auf einmal nach Flipped Classroom
unterrichten, obwohl ich das eigentlich schon einmal empfohlen hatte nicht zu tun. Aber die 9.Klasse hatte ich ja schon mal komplett mit Videos vorbereitet.
Da dachte ich, ich habe keine neue Arbeit mehr. Falsch gedacht. In den Ferien bin ich dank Camtasia auf den Geschmack gekommen, mich selbst mittels Greenscreen in die Videos einzufügen. Die Schüler der Projektklasse hatten mir den Tipp mitgegeben, dass es persönlicher wird, wenn ich mich
selbst einblende. Als ich meine Videos, die ich in der 9. Klasse einsetzen wollte noch einmal ansah, merkte ich, dass ich es heute aufgrund meiner Erfahrungen ganz anders machen würde. Meine vor
zwei Jahren erstellten Videos waren zu lang, ich hatte zu viel (idiotensicher) hineingepackt, mein Mikrofon war schlecht und meine Sprechstimme war an Langweiligkeit nicht zu überbieten. Also
habe ich einen Großteil meiner Videos für die 9. Klasse noch einmal erstellt. Von wegen, digitale Unterrichtsvorbereitung kann man immer wieder verwenden. Im Nachhinein war ich ganz froh, dass
man mir anriet, in der fünften Klasse noch nicht gleich den Unterricht umzudrehen, damit sich die Schüler erst an die Schule gewöhnen können. Ich habe es das ganze Jahr nicht geschafft auch für
diese Schüler Videos zu erstellen. Das erfolgt jetzt erst im nächsten Jahr, dann aber klassenübergreifend und mit anderen Kollegen zusammen als Projekt.
Also dieses Jahr zwei Klassen Flipped Classroom, mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Bei beiden gab es zwar statistisch eine Verbesserung, aber nur bei einer hatte ich auch wirklich das Gefühl, mit meinem Unterricht etwas bewegt zu haben.
Auf der x-Achse sieht man die Arbeiten und auf der y-Achse die dazu gehörigen Notendurchschnitte. Beide Klassen sind schon mit einer sehr unterschiedlichen Ausgangsituation in das Schuljahr gestartet, doch die Klasse auf der linken Seite hatte bis auf einen Ausreißer ihre Leistungen kaum verbessern können. Woran das liegt, kann ich nur vermuten. Flipped Classroom funktioniert einfach nicht bei jeder Klasse gleich gut und es kommt darauf an, wie gewillt die Schüler sind, überhaupt zu arbeiten. Im Vergleich zur rechten Klasse hatten die SchülerInnen der linken selten Ihre Unterrichtsmaterialien dabei und taten sich insgesamt schwer, länger als 10 Minuten eigenständig zu arbeiten. Dies frustrierte mich dann auch auf Dauer. Ich konnte mit den SchülerInnen nicht wie gewohnt in offenen Unterrichtsformen arbeiten sondern war damit beschäftigt, den Schülern wegen fehlender Aufgaben und Materialien ins Gewissen zu reden. Das hat nicht wirklich dazu beigetragen, dass das Lehrer-Schüler-Klima besser geworden ist. Wenn man im Flipped Classroom viel Zeit für Interaktionen mit den Schülern hat, kann das SchülerInnen, die lieber in Ruhe gelassen werden wollen auch zusätzlich frustrieren.
Spannend war eine Umfrage gegen Ende des Schuljahres. Alle wollen weiter mit Flipped Classroom unterrichtet werden, fast alle glauben, im nächsten Jahr dadurch ihre Note zu verbessern. Das wird auf jeden Fall spannend.
In der anderen Klasse ist die Selbstaktivität schon so weit angewachsen, dass Tendenzen des selbstorganiserten Lernens erkennbar sind.
Bei diesen SchülerInnen bin ich überzeugt, dass der Flipped Classroom etwas gebracht hat und noch bringen wird.
Veränderungen beim Konzept
Nachdem ich 2,5 Jahre den FC immer im selben Rhythmus unterrichtet hatte, merkte ich in diesem Schuljahr, dass mir der nachhaltige Effekt des Entdeckenden Lernens dabei verloren geht. Wenn ich jedes Mal vorbereitend alles im Video erkläre, können Schüler nicht Ihre eigenen Gehversuche machen. Davon würden besonders die besseren profitieren. Also habe ich seit diesem Schuljahr so genannte Impulsvideos erstellt, die eine offene Fragestellung beinhalten und davor bei Bedarf Grundwissen aktivieren. Jeder Schüler probiert also mit dem Video zu Hause aus, wie man etwas lösen oder gestalten kann und im Unterricht werden dann die Ergebnisse zusammen getragen. Jeder so eingeführte Sachverhalt konnte von den SchülerInnen selbstständig gelöst werden, wenn auch nicht jeder Schüler auf jede Einzelheit selbst kam. Aber im Klassenverband war dies möglich. Der große Vorteil liegt darin, dass jeder Schüler zu Hause alleine (und hoffentlich nicht über wahtsapp) die ersten Gehversuche macht und so seinen eigenen Zugang findet. Im Klassenverband sind solche entdeckenden Arbeitsphasen immer geprägt von der ersten Antwort. Das Erklärvideo des Lehrers ist dann der Inhalt der nächsten Hausaufgabe. Denn im Unterricht werden zwar die Ergebnisse zusammengetragen, aber nicht gesichert. Für mich ist die "Abschreibephase" IM Unterricht die für den Lehrer sinnloseste Zeit. Der Hefteintrag wird nachmittags angefertigt und SchülerInnen die krank waren oder den Inhalt auch im Unterricht nicht erfasst haben, können diesen dann noch einmal nachbereiten (sie haben zumindest die Möglichkeit dazu).
Die Erkenntnis, den Flipped Classroom derartig zu verändern, habe ich über Twitter erhalten. Ein Professor aus Heidelberg hatte mich immer wieder auf das Fehlen des Entdeckenden Lernens hingewiesen. Er kommt aber zu dem Schluss, dass deshalb der Flipped Classroom Unfug ist (und hat das auch mehrfach unter meine Tweets so geschrieben). Zu diesem Schluss komme ich nicht. Mir ist in diesem jahr bewusst geworden, dass Videos lerntheoretisch nicht geschickt sind. Sonst würde es ja ausreichen, YouTube zu schauen statt in die Schule zu gehen. Nein, Videos befreien den Lehrer vom Input und die Kommunikation im Klassenzimmer und die Selbstständigkeit der SchülerInnen wird maximiert. Genau das predigen ja auch alle, die sich ernsthaft mit dem Konzept befassen: Nicht das Video, sondern das Arbeiten im Klassenzimmer sind das Herzstück des Flipped Classroom.
Social Media - die Filterblase
Dies aber in den sozialen Medien zu verbreiten oder zu benennen, ist in meinen Augen kaum möglich. Auch wenn sich Twitter
mittlerweile zu einer tollen neuen Möglichkeit der Fortbildung entwickelt hat, sind die analogen Zusammentreffen meiner Meinung nach die besseren, um sich mit einem Konzept wie Flipped Classroom
umfassend auseinanderzusetzen. Es ist das gleiche wie im Unterricht. Durch digital aufbereitete Inhalte kann man sich ein wenig individueller mit einer Thematik befassen, es fehlt aber die
Kommunikation und die selbstständige Interaktion, um selbst "entdeckend" zu lernen, bzw. um als Lehrer die Schüler zu motivieren. Ich selbst habe viele tolle Dinge über Twitter erfahren, aber
erst in der eigenen Anwendung auch durchdrungen und verstanden. Darüber hinaus ist die Verbreitung doch etwas begrenzt. Denn wer liest denn die Tweets über Bildung? Es sind genau diejenigen
Lehrer, welche (in meinen Augen) sowieso schon guten Unterricht machen oder neue Medien sinnvoll einsetzen. Da aber in den meisten Klassenzimmern analog gearbeitet und weitergebildet wird,
entwickeln ein paar 100 Lehrer ihren Unterricht digital weiter, während die allermeisten Kollegen in Deutschland diese Entwicklung gar nicht mitbekommen. Das führt in meinen Augen zu einer
gefährlichen Spaltung. Denn auch die "digital teacher nerds" (zu denen ich mich auch zähle) verkennen vielleicht so, wie wertvoll analoge Elemente im Unterricht sein können, weil ja möglichst
vieles digital ausprobiert werden soll. Dieser Kritik will ich mich persönlich im neuen Schulahr stellen. Ich möchte wieder häufiger bei meinen Kollegen hospitieren, die tollen Unterricht ohne
die neuen Medien machen. Ich möchte wieder mehr über guten Unterricht diskutieren und weniger über digital und analog. Ich möchte, dass mein Flipped Classroom analog aufgewertet wird, nachdem die
Inhalte digital aufbereitet wurden. Und ich möchte weiterhin das Konzept in die Welt hinaustragen, mich auf Tagungen aber nicht hinter meinem Handy und auf Twitter verstecken. Sonst bin ich am
Ende auch nur ein Daddler wie meine Schüler, statt PokemonGo halt dann gebildet auf Twitter... Wohin die Kommunikation über social media ohne reale Treffen führen beobachte ich seit ein paar
Monaten auch in der Lehrer-Community. Es werden oberflächlich Themen angerissen und extreme Standpunkte vertreten. Das würde bei Gesprächen von Angesicht zu Angesicht in meinen Augen nicht
passieren.
Darum geht es am Schluss auch im Unterricht: Bildung wird durch elektronische Medien nicht neu erfunden oder ersetzt, sondern kann nur eine effiziente Ergänzung sein. Man sollte in seinem
Unterricht Raum schaffen für viel analoge Kommunikation und selbstgesteuertes Lernen. Dafür, so bin ich weiterhin überzeugt, ist der Flipped Classroom ein tolles Konzept, für meinen Unterricht
kann ich ihn mir nicht mehr wegdenken.