Sehr oft höre ich in letzter Zeit von Lehrern, die mit den Begriffen "Flipped Classroom" und "Flipped Learning" so umgehen, als wäre es ein und dasselbe. Aber weit gefehlt. Flipped Learning ist eine Weiterführung des Flipped Classroom. Mit FC ist mehr oder weniger nur der Austausch von Unterrichtsinhalten mit den Hausaufgaben gemeint. Das haben wahrscheinlich schon mehrere Lehrer gemacht, ohne dass sie es wussten. Ich erinnere mich noch an meinen Deutschlehrer, der uns seitenweise Instruktionen zum Durchlesen als Hausaufgabe aufgegeben hatte, um dann im Unterricht darüber zu diskutieren. Dies war sicherlich kein bewusstes Unterrichten nach dem Flipped Classroom Prinzip. Genauso haben vielleicht schon mehrere Kollegen im Unterricht Videos eingesetzt.
Wo ist der Unterschied?
Flipped Learning legt den Fokus auf die Präsenzphase, also auf die Interaktionen im Unterricht. Das Besondere beim Flipped Classroom ist, dass man 45 Minuten Zeit
hat, die Schüler arbeiten zu lassen. Lässt man nun einfach anstelle des Inputs Hausaufgaben machen, dann dreht man zwar sein Klassenzimmer um, hat aber noch nicht wirklich einen Fortschritt
gegenüber dem traditionellen Lernen. Es gilt den Unterricht zu öffnen und von den Schülern Selbstorganisiertes Lernen einzufordern. Bei meinen Recherchen für diesen Blogartikel bin ich dabei auf
diese Beschreibung von "Flipped Learning" gestoßen. Die vier Pfeiler F-L-I-P, die aus einem
Flipped Classroom ein Flipped Learning machen. Ich habe mir Gedanken gemacht, welche dieser Faktoren in meinem Unterricht erfolgreich waren und welche ich darüber hinaus benennen
würde.
Schüler im Zentrum des Lernens
Der erste Schritt des Lehrers sollte es sein, einen Schritt zurück zu gehen. Mit den Erklärvideos zur Hausaufgabe ist ohnehin nur der traditionelle Frontalunterricht ausgelagert worden.
Einerseits wäre es also sinnvoll, auch die Videos interaktiv zu gestalten oder offene Fragestellungen einzubauen und andererseits im Klassenzimmer die Input-Kontrolle aufzugeben. Ich hatte mich
am Anfang oft dabei ertappt, hier und da wieder in die "Erklärfalle" zu tappen wenn etwas nicht funktionierte oder sofort zu helfen, wenn Schüler Fragen hatten. Das hatte aber zur Folge, dass
mich die Schüler immer gleich fragten, wenn Sie etwas nicht verstanden hatten ohne länger selbst nachzudenken. Ich gewöhnte mir also an, guten Schülern keine Antworten zu geben bzw. sie zum
selbstständigen Ausprobieren zu ermutigen: "Das kannst Du, sicher.", "Du willst doch eine 1 schreiben, dann müsstest Du schon selbst auf die Lösung kommen" oder "Lass Dir Zeit, du kommst schon
noch auf das Ergebnis." waren Antworten, mit denen sich gerade die Vielfrager immer wieder begnügen mussten. So bleibt dann am Ende mehr Zeit für die Schüler, welche die Unterrichtszeit
eigentlich nur absitzen wollen.
Wichtig ist auch das Element des Entdeckenden Lernens, auch wenn es erfahrungsgemäß im "Lehrplandruck" kaum umsetzbar ist. Mit Flipped Learning kann man mit der Zeitersparnis eben auch dies
bewerkstelligen, auch wenn Videos eigentlich linear erscheinen. Man lagert mit dem Video nur den Input aus, den man als Lehrer unbedingt geben muss. Das ist nicht jedes Mal zwangsläufig
eine Einführung. Genauso kann man Schüler etwas erarbeiten lassen (Impulsvideo als Vorbereitung)
und dann mit einem Erklärvideo (als folgende Hausaufgabe) die im Unterricht gesammelten Ergebnisse
sichern. Von außen betrachtet denkt beim Flipped Classroom jeder an rezeptähnlichen Unterricht. Richtig rhythmisiert wird daraus eine kompetenzorientierter Unterricht und die Schüler können an
bestimmten Stellen auf das Fachwissen des Lehrers zurückgreifen. Nur sollte das nicht immer gleich zu Beginn einer Einheit sei.
Es muss aber auch erlaubt bleiben, als Lehrer einfach mal etwas erklären zu dürfen. Schüler lernen nicht, wenn sie ständig in Sackgassen laufen und das machen viele, die nur entdeckend lernen.
Schüler müssen von einem "brennenden" Lehrer motiviert werden, sich intensiv mit der Thematik auseinannderzusetzen. Dass die ganze Klasse "Lust" auf die nächste Unterrichtsstunde hat. Das genau
ist Flipped Learning, der Lehrer entlastet den Unterricht um den Input und macht aus dem Klassenzimmer ein scheinbar wildes Durcheinander mit ganz vielen intensiven Arbeitsphasen.
Schüler in die Verantwortung nehmen
Oder man setzt auf die mächtigste Waffe, die Schüler zum Nachfragen zu bringen: Die Peers. Ich habe in meiner Projektklasse sechs Schüler von den Aufgaben befreit,
die zu jeder Zeit Ansprechpartner von Klassenkameraden sein können. Diese habe ich aber vorher kurz geschult. Sie sind nicht dazu da, den Mitschülern die Lösungen ins Heft zu zaubern. Sie sollen
nur auf Fehler hinweisen oder kleine Tipps geben. Außerdem dürfen Sie keine Inhalte aus Videos wiederholen. Hier setzt - zumindest in Ansätzen - auch das Konzept des Lernen durch Lehren
an.
Damit Schüler immer wieder feststellen können, ob Ihre erledigten Aufgaben richtig sind, haben Sie zu jeder Zeit alle Lösungen zur Verfügung, manchmal auch als Erklärvideo. So können Sie sich vollständig durch Ihre Aufgaben durcharbeiten und nach jeder Aufgabe ihr Ergebnis überprüfen bzw. reflektieren. Das geht natürlich nur, wenn man auch Platz und Zeit lässt für individuelles Arbeiten. Meine Aufgaben sind auf knapp 30 Minuten konzipiert. Dann kann man auch einmal länger für eine Aufgabe brauchen bzw. mit älteren Videos Grundwissen auffrischen. Darüber hinaus ist den Schülern das Wie des Arbeitens frei gestellt. In der Gruppe, mit dem Nachbar oder alleine mit Kopfhörer, dass sie nicht gestört werden. Auch dafür braucht man manchmal etwas mehr Zeit.
Wertschätzung, Selbsteinschätzung und Differenzierung
Ein wichtiger Baustein für schulischen Erfolg ist nicht erst seit Hattie die Selbsteinschätzung der Schüler. Wie sehen sie sich und welche Note wollen sie überhaupt erreichen? Durch das Zurücktreten im Klassenzimmer hat man nun mehr Zeit dafür, sich genau um diese Dinge zu kümmern. So gibt es in jeder Klasse eine Schülersprechstunde. Ich versuche mit jedem Schüler einmal im Halbjahr zehn Minuten lang ein Vier-Augen-Gespräch zu führen. Dabei geht es in erster Linie um seine Probleme mit dem Fach, aber auch um Probleme mit Klassenkameraden oder zu Hause. In genau diesen Gesprächen habe ich in den letzten Jahren gelernt, dass es keinen Vorteil bringt, alle Schüler das Gleiche machen zu lassen. Jeder Schüler muss selbst bestimmen, mit welchen Aufgaben er sich auseinander setzt. Ich biete daher in Übungsphasen drei Aufgabenpools (1, 2 und 3) an. Die Schüler wählen sich ihre Gruppe entsprechend ihren Erwartungen bezüglich der Note aus. So habe ich dann natürlich auch die Möglichkeit zu sagen: "Du wolltest die schwierigste Gruppe und eine sehr gute Note, also solltest Du die Aufgabe auch selbst lösen." Die leichteste Gruppe 3 ist so kalkuliert, dass auf jeden Fall jeder Schüler fertig wird und dann Zeit hat, Übungen aus den anderen Gruppen zu versuchen. Vor Klassenarbeiten schätzen sich dann die Schüler selbst ein: Wie viel habe ich in den letzten Stunden geübt und was erwarte ich mir in der Arbeit.
Mit diesen Elementen kann der Lehrer zum echten Begleiter werden, einerseits Schüler voranzutreiben und bei Bedarf aber auch einzelne Schüler aufzufangen, wenn
Probleme in ein Klassenzimmer hineingetragen werden. Es gibt aber kein Rezept für diesen Unterricht. Die hier genannten Dinge haben bei mir funktioniert. Jeder Lehrer muss selbst für sich
herausfinden, mit welchen Elementen oder Sätzen er seine Schüler zum selbstständigen Lernen ermutigt.
Beobachten und weiterentwickeln
Je länger man Flipped Classroom unterrichtet, desto häufiger wird es Phasen geben, in denen der Lehrer gar nichts mehr zu tun hat. Dann geht es darum, dass der
Lehrer etwas lernt. Dass er ganz genau beobachtet, was die Schüler tun, dass er die Schüler anonym Stellung zu den Videos beziehen lässt, dass er sich berichten lässt, welche Tricks die Schüler
haben, um doch wenig Hausaufgabe zu machen. Mit diesem Wissen kann er dann Videos auf eine andere Art gestalten, weitere Methoden in den Unterricht integrieren und vieles mehr. Mit einer gut
installierten Feedback-Kultur wird man als Lehrer mehr lernen, als man es sich im traditionellen Unterricht je zu träumen gewagt hätte. Auch hier gilt es wieder: Je mehr Zeit und Wertschätzung
man den Schülern entgegenbringt, desto mehr wird man über sie lernen und damit besseren Unterricht machen können.
Hilfreich ist es natürlich auch, weitere Kollegen ausfindig zu machen, die auch nach dem Konzept unterrichten. Nicht jede Beobachtung ist auch richtig und nicht jeder beobachtet das Gleiche.
Was noch fehlt
Deswegen ist aber mein Flipped Classroom noch immer ausbaufähig. Auf der Liste der offenen Punkte steht z.B. die Einführung von Tests im Unterricht, mit denen die Schüler ihren Leistungsstand zum aktuellen Thema ausloten. Je nach Fehler sollen dann weitere Videos oder Videoausschnitte zur Verfügung gestellt werden. Des Weiteren spart man mit dem Konzept so viel Zeit, dass man Matheprojekte einbauen könnte, die Mathematik in der realen Welt begreifbar machen. Damit meine ich nicht die Aufgaben aus dem Schulbuch, welche einen realen Sachverhalt simulieren, sondern konkrete Mathematik außerhalb des Klassenzimmers.
Ein weit entferntes Ziel ist es dann, Schüler im eigenen Tempo durch den Lehrplan wandern zu lassen. Sie bestimmen selbst, wann sie welche Klassenarbeit schreiben
werden.
Fazit
Flipped Classroom ist also nur der Austausch von Unterrichtsphasen vom traditionellen Unterricht her kommend. Flipped Learning dreht dann das Lernen der Schüler und die Rolle des Lehrers mit um.
Dies wiederum ist aber ein alter Hut und wird offener Unterricht genannt. Allerdings kann man diesen nun viel leichter realisieren, weil man mit Hilfe der technischen Möglichkeiten Freiraum dafür
geschaffen hat und durch ein digitales Klassenzimmer der Schülerwelt besser gerecht wird. Flipped Classroom ist also eine Technisierung von Unterricht, Flipped Learning macht daraus die
altbekannte Idealform guter Lehre in vielleicht hochwertigererer Form.